Unrasiert und gehässig - Erinnerungen an meine Urgroßmutter
Unrasiert und gehässig – Erinnerungen an meine Urgroßmutter.
Der breite Weg bis zur Haustür wurde alle paar Jahre mit grobem Schotter bestreut. Den brachte immer einer meiner Onkel mit einem großen LKW. Hatten ich und mein Cousin Rolf die Ladung gleichmäßig verteilt, wechselte der Onkel auf den Traktor und drückte mit den breiten Hinterreifen die grauen Steine in den Lehmboden. Nun konnte wieder die Ur-Oma, die Oma, der Opa, die Tante, der Onkel, meine Eltern und ich besucht werden, ohne dass der Ankömmling Gefahr lief, mit Hühnerkacke und Kuhscheiße an den Schuhen im langen Flur des Hauses zu stehen.
Eigentlich gab es ja zwei Eingänge in das Haus. Aber der geschotterte, breite Zugang, das war der für den Postboten, der die Pension für die Ur-Oma brachte, den Dorfpolizisten, der immer alles im Voraus wusste, den hinkenden Großonkel, der zwar nie in Stalingrad, aber dafür in der NSDAP war und natürlich den Metzger, der zwar auch irgendwie mit uns verwandt war, sich aber jedes Mal, wenn er Opa besuchte, so benahm, als hätte er mich in seinem bisherigen Leben noch nie gesehen.
Der andere Eingang war für mich, den Hund, den Traktor, das Heu, meine Oma und meine Eltern vorgesehen. Ich fragte nie, hielt mich aber streng an die Regeln. Es war ja auch eigentlich kein richtiger Eingang. Wer hier durchging, der musste zuerst das riesige Tor zur Scheune durchschreiten, die Kühe passieren, die gerade gekalbt hatten, den Hund begrüßen, dann ein paar Treppenstufen meistern, um in das Heiligste überhaupt zu gelangen. Die Küche.
Wenn man überhaupt eine Küche als solche benennen darf, dann war es die in dem Haus, in dem ich meine Jugend verbrachte. Keiner, der diesen Raum je betreten hat, wäre in der Lage gewesen hinterher zu sagen, was er oder sie als Blickfang aus der Küche mit auf den Weg nachhause nehmen wird. Der massive Holztisch mit den Ausmaßen „Das-hat-die-Welt-noch-nicht-gesehen“, der irre lange Herd mit zwei Backöfen und einer Tür, durch die er ständig mit Holz gefüttert wurde und dann noch der große Kupferkessel, in dem ständig irgend etwas kochte, auf das die Schweine ganz verrückt waren. Außer den vielen Stühlen war da aber noch das alte Radio, das mein Opa auf einem schlichten Regalbrett platziert hatte. Das Besondere hierbei war nicht das Alter des Monstrums, sondern der Standort. Regalbrett, Radio und Zimmerdecke bildeten sozusagen eine Einheit. Wer das Radio ein oder ausschalten wollte, musste ohne technische Hilfsmittel mindestens 1.85 Meter groß sein, um mit dem ausgestreckten Arm den magischen Knopf überhaupt berühren zu können. Soweit ich mitbekommen habe, durften nur, solange mein Opa lebte, der Schotter-Onkel und der Meister selbst dem antiquierten Teil Leben einhauchen. Aber auch für den Schotter-Onkel galt das höchste Gebot: Nur an oder ausmachen. Den Sender wechselt nur der Opa. Und der hat ihn nie geändert.
Rolf und ich wagten ein einziges Mal das Experiment, mittels Esstisch beischieben, dem Teil andere Töne, fern der üblichen Blasmusik zu entlocken. Wir waren wenige Augenblicke später vom Glück verwöhnt, nicht von der Heugabel getroffen worden zu werden, die aus der Scheune in die Küche flog.
Aber nicht nur mein Cousin und ich hatten einen Schutzengel. Auch Ur-Oma Biene, die eigentlich Josephine hieß, aber von niemandem so genannt wurde, durfte sich mit drei Bekreuzigungen und einer Danksagung an den Ideenlieferanten für die Bibel, glücklich schätzen, keine nähere Bekanntschaft mit dem Flugobjekt gemacht zu haben. Denn wie der Tisch, die Stühle, das Radio, der Herd und der Futterkessel, Ur-Oma Biene gehörte genau so in diese Küche.
Ich bin mir noch heute vollkommen sicher, in dem Augenblick, als ich ein Stockwerk über dieser Küche das Licht der Welt erblickte, saß die Alte auch in ihrem, aus Weidezweigen geflochtenen Stuhl, bekreuzigte sich ständig und ließ jeden wissen, der es hören wollte, dass dies alles kein gutes Ende nimmt. Denn, was soll ein Schullehrer schon Vernünftiges zustande bringen?
Mit dieser Meinung und das wurde mir erst viele Jahre nach meiner Geburt bewusst, repräsentierte sie das Bild, das die haushohe Mehrheit der Hausbewohner von meinem Vater mit sich durch die Jahre trug.
Lehrer in einem Bauernhaus bedeutet Unglück in mehrerlei Hinsicht, Kein Land, kein Geld, von nichts eine Ahnung und will alles besser wissen. Ich war in Omas Rangliste der Beliebtheit schon tief gelistet, alleine schon wegen meiner roten Haare (kein Bauer hat schließlich rote Haare), aber mein Vater konnte auf seine Existenz nur noch durch gelegentliche Morsezeichen aus einer anderen Welt, weit jenseits der bäuerlichen, hinweisen. Und die mussten dann auch noch von meiner Mutter der Ur-Oma und dem Opa übersetzt werden.
Die Ur-Oma saß jedenfalls Tag für Tag in diesem Korbstuhl wie festgenagelt. Ich habe nie mitbekommen, dass diese alte Schachtel je auf die Toilette gegangen ist. Mit Sicherheit hat sie es einfach laufen lassen. Ihr ständiger Begleiter war ein brauner Gehstock, dessen Ende dick mit einem schwarzen Isolierband umwickelt war. Das war aber auch nicht schon immer so. Früher befand sich ganz unten an diesem Stock eine Art metallene Umhüllung, die dafür sorgte, dass jeder im ganzen Haus mitbekam, wenn der Familientyrann spät am Abend in ihr Zimmer wechselte oder in aller Herrgottsfrühe sich zurück in den Korbsessel wuchtete. Der Fliesenboden im unteren Stockwerk diente als Resonanzkörper für Ur-Omas Platzwechsel. Irgendwann muss dieses klack, klack, klack meinen Schotter-Onkel so genervt haben, dass er diesem Metallpfropfen eine Schallisolierung verpasste. Während der Rest der Familie ab sofort ruhigere Nächte verbrachte, freute ich mich über diese handwerkliche Meisterleistung, da dieses hinterlistige, alte Miststück mich nie mit meinem Namen ansprach, stattdessen lieber eine günstige Gelegenheit abwartete, mir den Stock in die Rippen bohrte und befahl: „Äh, du Scheißer, bring mir mal ein Glas Wasser.“
Am Monatsanfang lief sie mit ihrer Gehässigkeit und Hinterlist zur Hochform auf. Während sie sich sonst nur darauf beschränkte, lediglich jeden der an ihr vorbeging, und das musste zwangsläufig jedes Familienmitglied, zu bezichtigen sie verhungern und verdursten zu lassen, änderte sich mit dem Auftritt des Postboten der Text im Mehrgenerationen-Schauspiel. Denn kaum hatte sie die ausgezahlte Witwenrente unter ihren drei Röcken, in der piss-nassen Unterhose verschwinden lassen, wollte niemand mehr sie verhungern oder verdursten lassen, sondern einfach nur ausrauben.
„Ihr seid doch alle nur hinter meinem Geld her.“ Den Spruch wiederholte sie am Tag so zirka fünfzig Mal. Doch dauerte diese Phase nur ganz kurz an, da meine Großtante, also Opas Schwester, ihre Mutter in gewohnter Regelmäßigkeit um das so begehrte Kapital erleichterte, ihr einen Kuss auf die Wange drückte und dann wieder im Dorf bis zum nächsten Monatsanfang bei ihrer Familie untertauchte.
Aber solche Nebensächlichkeiten interessierten mich und meinen Cousin herzlich wenig. Wir waren auf die Alte stinksauer, weil sie uns ständig verpfiff. Diese Frau wusste scheinbar gar nicht, dass man von Zeit zu Zeit auch die Augen schließen kann. Sie brachte es wahrhaftig fertig, um drei Uhr in der Frühe die gesamte Belegschaft im Haus aus den Betten zu trommeln, weil ihr aufgefallen war, dass im Nachbarhof bereits das Licht im Stall brennt und ihr faules Pack noch immer in den Federn liegt.
Egal was sie auch immer sah oder nur vermutete, Rolf und ich waren immer schuld. Aber, und da spielte uns der Lauf der Natur natürlich in die Hände, kam der Tag, als die alte Petze es nicht mehr aus ihrem Bett in die Küche schaffte. Es ging ein tiefes Durchatmen durch das ganze Haus. Die Erleichterung war jedem am Gesicht anzuerkennen, der aus der Scheune heraus die Küche betrat. Der Korbstuhl stand einsam und verlassen zwischen dem Türrahmen und dem großen Esstisch. Keine unrasierte, alte Hexe, keine Befehle und keine Beschimpfungen. Das alte Radio avancierte auf seine alten Tage doch tatsächlich noch auf Platz 1 der Propheten schlechter Zukunftsprognosen. Die Biene hatte ausgesummt.
Die Machtverhältnisse hatten sich urplötzlich verschoben und es sollte sich sehr schnell zeigen, dass Kinder Ungerechtigkeiten nie vergessen und nur schwer verzeihen. Rolf und ich gingen planstabsmäßig vor. Der Opa musste irgendwo auf der Weide sein, die Oma auf der anderen Seite der Straße im großen Stall, wo die Pferde, Kühe und Schweine ihr Zuhause hatten. Meine Mutter im Garten außerhalb des Dorfes, mein Vater in der Schule, der Schotter-Onkel auf seinem Bagger und Rolfs Eltern mit ehelichen Pflichten beschäftigt sein, dann schlug die Stunde der Rächer aller Unterdrückten.
Ein kurzer Blick durch den Türspalt genügte, um zu erkennen, dass die 125 Tabletten, die Ur-Oma täglich in sich hinein stopfte, Wirkung zeigten und ihre Augenlider auf Feierabendmodus schalteten. Also Zeit für unseren Auftritt.
Schräg gegenüber Ur-Omas Zimmer war ein unbeheiztes Zimmer, das alle nur die gute Stube nannten. Dort fanden die 4 oder 5 Hefekuchen, die meine Oma jeden Samstag buk, immer ihren Platz zu Abkühlung. Auch wurde dort das Porzellan aufbewahrt, das nur an Festtagen auf dem Tisch stand und, ganz wichtig, dort lagerten die Instrumente der männlichen Familienmitglieder, die allesamt in der örtlichen Blasmusik aktiv waren. Rolf nahm sich der Tuba unseres Opas an und ich setzte das Mundstück auf die Posaune von Onkel Erwin, der zwar nicht mehr im Haus wohnte, aber sein Instrument hier trotzdem lagerte.
Wegen des großen Resonanzkörpers der Tuba musste die Tür etwas weiter geöffnet werden. War der ideale Winkel eingerichtet, blies Rolf seine Backen auf, ich sog meine Lunge bis zum Anschlag voll, öffnete den Zug der Posaune und das letzte Gericht sprach sein Urteil. Wie schnell Schlaftabletten ihre Wirkung einbüßen können, konnten wir anhand dieser Experimente unzweifelhaft nachweisen.
Aber, und das möchte ich noch betonen, an ihrem Tod war weder eine Tuba, noch eine Posaune schuld.
Höchstwahrscheinlich hatte sich der Postbote um einen Tag verspätet.
Ich muss sagen, jetzt da ich ein bisschen mehr von dir gelesen habe, wenn man deinen Schreibstil kennt, kann man deinen Geschichten echt viel entnehmen, was auf den ersten Blick ungesehen blieb.
Ich war echt wie gefesselt :)
Nur kurz noch als Frage: sind das deine eigenen Erinnerungen, oder ist das ausgedacht?
Wenn du mir bei Gelegenheit einen Namen steckst, mit dem ich dich direkt ansprechen kann, wäre ganz schön. Sonst tut sich bei mir immer das Gefühl auf, als würde ich mit der Tür ins Haus fallen.
So, jetzt zu deinen Replies. Ich werde jede für sich beantworten. So viel Zeit muss einfach sein.
Eines vorweg (ohne dass ich die anderen Kommentare von dir gelesen habe), so hört sich ein typischer Satz meiner Frau an, nachdem sie etwas gelesen hat, das ich gerade zu Papier brachte: "Erzähle mir mal, wie das jemand verstehen soll?"
Daraufhin stelle ich mir die Frage, ob ich nicht tatsächlich einen an der Klatsche habe. Ähnliche Vermutungen hatte schon das eine oder andere Mal mein Lektor geäußert.
Wenn es so sein sollte, weiß ich nur, das diese Krankheit nicht mit Schmerzen verbunden ist. Aber, wie du selbst erkennen kannst, bist du der Einzige, der sich dafür interessiert wie schlimm es wirklich um mich steht.
Wie komme ich zu diesen Geschichten? Mir schwirren zwei drei Gesichter vor Augen, dazu mische ich eine kleine Portion der Erinnerungen, die es noch auf meiner Festplatte ausgehalten haben. Erst dann setze ich mich hin und konstruiere eine Story, von der ich keine Ahnung habe, welche Wendungen sie nehmen wird und wohin sie mich führt.
Ich hoffe dir ein paar Fragezeichen wegradiert zu haben.
Gruß, Wolfram
Ich finde es interessant die Geschichte nicht einfach nur zu lesen, sondern auch zu sehen was eben nicht geschrieben steht, sondern dahinter passiert (ist).
Für deine Geschichten muss man sich halt etwas mehr Zeit nehmen und sie sich mehrfach und sehr genau anschauen, um wirklich zu verstehen. Das finde ich aber gerade sehr schön!
Auch schön sind einfach deine Formulierungen, wie
Das ist einfach nur nett zu lesen, vielen Dank! :D
Hallo Tom,
nichts zu danken. Was wäre ein Autor ohne Leser? Aber, wie du ja leicht erkennen kannst, haben solche Posts gegen einen angebissenen Hamburger auf einem verschmierten Teller keine Chance. Oder ich müsste mal ein Bild posten, auf dem ich meine Unterschenkel um meinen eigenen Hals gewickelt habe und dabei Tipps verteile, wie man auch mit Quatsch aus der Dose sein Konto füllen kann.
Nur fehlt es mir dazu an Motivation und der nötigen Biegsamkeit.
Gruß, Wolfram
Hey Wolfram,
das stimmt, ich habe jetzt auch meine erste eigene Kurzgeschichte geschrieben und hochgeladen und freue mich auch über alle Leser :D
Ich finde es total schade, dass solch ein Schrott so viel mehr Aufmerksamkeit bekommt, als solche kleinen Schätze wie deine Geschichten zum Beispiel.
Ich meine, manchmal habe ich auch keine Lust mich so tief mit solchen Geschichten zu beschäftigen und greife dann zum trash, aber eigentlich ist das nur Zeitverschwendung...
Schöne Grüße
Tom :)