Der Dvořák-Code – Teil 2

in Deutsch Unplugged20 hours ago (edited)

Der Dvořák-Code – Teil 2

Musik ist eine Art in der Zeit geformte Stimmung. Zumindest könnte es so scheinen, weil das Hören von Musik in die Hörenden Stimmungen induziert, sei es im Mitgehen mit den Aufs und Abs in der Musik oder sei es in der Abwehr dessen, was die Musik in ihren Klängen auszulösen vermag. Die ästhetischen Eigenschaften, die ich der gehörten Musik zuschreibe, sind also eigentlich Eigenschaften meines musikalischen Erlebnisses, nicht der Musik. Eigenschaften der Musik wären Dur oder Moll, gemessene Lautstärke, in den Noten ablesbarer Ton-Umfang und so weiter, allgemein ausgedrückt: formale Beschreibungen der strukturellen Merkmale. Ob eine Musik pathetisch ist oder schlicht, ob sie mir schematisch erscheint oder kitschig, das sind alles Eigenschaften meiner Begegnung mit ihr. Und genau darum habe ich Einfluss darauf, und deshalb nenne ich es eine Interaktion, nicht eine rein passive Rezeption.

Da ich mich mit Dvořáks Musik ein bisschen schwer tue, ich ihren "Code" nicht "knacken" kann - bis auf sehr wenige Ausnahmen wie etwa bei der Streicher-Serenade E-dur op. 22 (siehe Teil 1) -, versuche ich nun, die von mir assoziierten, aber negativ belegten Eigenschaftswörter in Bedeutungs-Relation zu setzen zu ihren positiv konnotierten Gegenparts. Dazu bemühe ich eine Erfindung aus den 1920-er Jahren, das sogenannte Wertequadrat von Nicolai Hartmann. Ich lernte es kennen über Friedemann Schulz von Thuns kommunikationspsychologische Buchreihe "Miteinander reden" (1980-er Jahre, von mir erstmals gelesen etwa zwanzig Jahre später).

Es geht in diesen Wertequadraten darum, Begriffe oder Eigenschaften so zu gruppieren, dass die negativen Werte als Übertreibungen oder Entgleisungen von positiven Werten erkennbar werden, und dass die positiven Werte Gegenparts haben, mit denen sie in Balance stehen müssen, um nicht in die Übertreibungen und damit in den negativen Bereich abzugleiten. Ein Standard-Beispiel in der Literatur, das sich zurück verfolgen lässt bis auf die Tugendlehre des antiken griechischen Philosophen und Universalgelehrten Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), sieht in etwa so aus:

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Geizig wirkt, wer übertrieben sparsam auftritt, und übertriebene Freigebigkeit wird oder wirkt verschwenderisch. Halten sich Sparsamkeit und Freigebigkeit die Balance, kommt es nicht zu den Übertreibungen. Die „klassischen“ Gegenteile finden sich auf den diagonal einander gegenüber liegenden Ecken.

Da ich zu Dvořáks Musik bisher meist etwas zu meckern, also negativ zu bewerten habe, und wir behalten im Sinn: nicht wirklich an der Musik, sondern an meiner Wahrnehmung derselben, an meiner emotionalen oder auch rationalen Reaktion darauf, stelle ich mir die Aufgabe, heraus zu finden, was genau ich übertrieben finde und wie es stattdessen betrachtet werden könnte. Was passiert, wenn ich eine Sinfonie, ein Streichquartett, und meist ist es ja nur eine Passage daraus, als "lärmig", als "aufdringlich" empfinde, aber so stark, dass es mir den ästhetischen Zugang zu dem ganzen Werk zu versperren scheint?

Das direkte Gegenteil von "lärmig, aufdringlich" wäre etwa "besonnen, diszipliniert", aber davon ist "lärmig, aufdringlich" natürlich nicht die Übertreibung. Es ist eher die Übertreibung von so etwas wie "enthusiastisch, begeistert, hingerissen". Dessen Gegenteil und gleichzeitig die Übertreibung von "besonnen, diszipliniert" sehe ich in "verkopft, konstruiert, gekünstelt". Ich hätte damit folgendes Quadrat erhalten, und es kommt jetzt nicht sehr darauf an, wie treffend oder verbesserungswürdig die von mir genannten Eigenschaftswörter sind, sondern was ich mit dem Quadrat werde anfangen können, was ich für mich persönlich aus der Konstellation seiner vier Ecken lernen will:

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Offensichtlich interagiere ich lieber mit Musik, die ich als "besonnen, diszipliniert" wahrnehme, die mir aber keinesfalls "verkopft, konstruiert, gekünstelt" vorkommen darf, daher also auch einen guten Anteil "enthusiastisch, begeistert, hingerissen" haben soll. Dabei denke ich spontan an Teile aus Beethovens 7. Sinfonie, vor allem an den 4. Satz derselben. Und ich erinnere mich, dass es Leute gab und gibt, die genau diese Musik des 4. Satzes von Beethovens 7. Sinfonie als zu "lärmig" oder "aufdringlich" empfunden haben, und dass es auch mir an bestimmten Tagen damit so ergehen kann, zumindest andeutungsweise.

Die selbst gestellte Aufgabe liefe also darauf hinaus, die "lärmigen" Stellen von Dvořáks Musik entweder bewusst wohlwollender aufzunehmen, das heißt, sie einfach mal näher an mich heran zu lassen, was natürlich gar nicht so einfach ist; oder zumindest heraus zu finden, an welchen Tagen, in welchen Grundstimmungen ich Dvořáks "lärmige" Musik-Passagen tatsächlich meiden sollte beziehungsweise umgekehrt: an welchen Tagen ich sie mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg "studieren" könnte. Ich hätte davon - selbstverständlich ohne mich dabei zu etwas zu zwingen - den Gewinn, etwas über mich selbst heraus zu finden und mir dabei vielleicht ein bisher wenig bekanntes musikalisches "Gelände" erschließen zu können. Der Dvořák-Code wäre für mich an einer Stelle geknackt, sofern es mir gelingt.

Mit nur einem Quadrat, mit nur einer Abwehr-Reaktion gegen das, was die bisher gehörte Musik Dvořáks mit mir machte, wäre es aber noch nicht getan. Ich hätte gegenüber etlichen Stellen auch noch die negative Zuschreibung als "schwülstig" zu bewältigen, vielleicht ungefähr so:

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Hier bleibe ich hängen bei der Frage: Welche Musikerfahrungen habe ich in Bezug auf "pathetische" (auf mich als pathetisch wirkende) Stücke oder Stellen? Von wo aus könnte ich in diesem Bereich Dvořák entgegen kommen, wie könnte ich versuchen, diesen Pathos-Code für mich aufzubrechen? Dazu habe ich im Augenblick, in dem ich das schreibe, noch keine Lösung. Vielleicht wird es aber bald einen Teil 3 geben, in dem ich von weiteren Erfahrungen mit dem Dvořák-Code berichten kann.

Bevor ich mit dem neuerlichen Hören von Dvořák-Werken beginne, bin ich auf Grund früherer Erfahrungen schon auf die folgenden Quadrate (meine Ausgangsposition weiterhin unten links) gefasst:

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Da ich in Teil 1 wegen der Streicher-Serenade E-dur, op. 22, in die Musik Dvořáks mit Werken der Jahre um 1875 eingestiegen war, verbleibe ich erst einmal bei Werken aus dieser Zeit und nehme mir konkret die folgenden Instrumentalwerke vor:

Rhapsodie a-Moll op. 14 (1874)
Notturno H-Dur für Streichorchester op. 40 (1875)

Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 10 (1873, UA 29. März 1874)
Sinfonie Nr. 4 d-Moll op. 13 (1874, UA 6. April 1892)
Sinfonie Nr. 5 F-Dur op. 76 (1875, UA 25. März 1879)

Romanze f-Moll für Violine und Orchester op. 11 (1873)
Konzert g-Moll für Klavier und Orchester op. 33 (1876)

Streichquartett a-Moll op. 16 (1874)
Quintett G-Dur für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass op. 18 (op. 77) (1875)
Klaviertrio B-Dur op. 21 (1875)
Klavierquartett D-Dur op. 23 (1875)

Opernwerke scheinen mir zu vielschichtig zu sein für dieses Experiment, obwohl ich zugeben muss, dass die Titel sehr verlockend klingen:

Der König und der Köhler, op. 14, Komische Oper in 3 Aufzügen (1871, 2. Fassung: 1874)
Die Dickschädel op. 17, Komische Oper in einem Aufzug (1874)

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