Die Rolle des Bürgers im politischen Diskurs – Lob der Empirie
Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich es nun endlich einmal geschafft, auch den dritten Teil dieser Arbeit zu bearbeiten und blogtauglich aufzubereiten. Wer die vorherigen Teile noch nicht gelesen hat, kann das sowohl hier als auch unter diesem Link nachholen.
Es ist tatsächlich wichtig, hier alles Vorhergehende zu kennen, um diesen letzten Part wirklich nachvollziehen zu können.
Die Crux der Rationalität
Wer sich noch an die ersten beiden Teile erinnern kann, weiß, dass mein zentraler Kritikpunkt der vorgestellten Modelle die grundlegende Annahme der Existenz rationaler Akteure war.
Die Fragwürdigkeit der vorauszusetzenden Ideen, damit diese Modelle überhaupt funktionieren, habe ich bereits thematisiert, daher lege ich meinen Fokus auf die Akteure selbst.
Die Annahme, dass Menschen weitestgehend als rationale Akteure fungieren können, erscheint auf Basis psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung zumindest fraglich.
Sehr viel wahrscheinlicher erscheint eine Kombination biologisch-kultureller Evolutionsfaktoren. Einer dieser Faktoren, um Verhalten von Individuen zueinander zu beschreiben, wird soziale Reziprozität genannt. Diese ist definiert als die Reaktion auf eine spezifische Aktion, sei sie positiv oder negativ, mit einer Aktion ähnlichen Werts.
Angewandt auf Habermas‘ Diskurstheorie würde dies beispielsweise bedeuten, dass nicht so sehr die rationale Abwägung im Vordergrund steht, sondern viel eher das Fairnessempfinden der beteiligten Akteure. Ein Konsens wird dann erreicht, wenn für alle Teilnehmer ähnliche Konsequenzen aus dem Diskurs entstehen – dies kann ein Resultat rationaler Überlegung sein, setzt jene aber nicht voraus.
Allerdings findet realer Diskurs und öffentliche Auseinandersetzung niemals in einem Verhältnis statt, welches die Akteure losgelöst von ihren jeweiligen Lebensrealitäten betrachten kann (Habermas würdigt das mit der Anerkennung der Intersubjektivität bzw. bei Rawls entsprechend die Burdens of Judgement).
Beide geben allerdings keine zufriedenstellende Antwort darauf, worauf sich faire, gleiche Verhaltensweisen gegenüber anderen Diskursteilnehmern begründen lassen. Hier hilft es, einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Lawrence Kohlbergs Überlegungen ob der Existenz universeller, moralischer Werte ist seit langer Zeit Gegenstand intensiver Forschung.
Empirische Untersuchungen von z.B. Gibbs et al. (2007) lassen darauf schließen, dass, obwohl Kohlbergs Arbeit einige Defizite aufweist, sich seine Theorie bezüglich der Universalisierung einer grundlegenden moralischen Werteentwicklung unterstützen lässt. Moralische Werte und darauf bezogene Perspektiveinnahme ist konsistent über kulturelle Grenzen hinweg. Menschen rund um den Globus können die Werte von Leben, Zugehörigkeit, Gültigkeit von Verträgen, Wahrheit, Eigentum und Gesetzen wertschätzen.
Moralische Sozialisation
Der hier zugrundeliegende Mechanismus ist allerdings nicht so sehr rationale Überlegung, sondern viel eher der Einfluss der Empathie auf menschliches Verhalten. Martin Hoffman beschreibt in seinem Buch Empathy and Moral Development – Implications for Caring and Justice verschiedene Faktoren menschlicher Moralentwicklungen und daraus resultierender Konsequenzen für menschliche Interaktion. Bedeutsam für die Betrachtung im Kontext der Theorien von Rawls und Habermas ist dabei die moralische Sozialisation. In Hoffmans Theorie der Moralentwicklung basiert Moral zwar maßgeblich auf Empathie, wird aber erst durch den Prozess unserer Sozialisation gefestigt und nachhaltig geformt.
Unter optimalen Voraussetzungen gelangen wir zu dem Punkt, an dem moralische Sozialisation sich in moralische Internalisierung wandelt. Das bedeutet, dass eine moralische Norm als die eigene moralische Überlegung übernommen wurde. Oder wie es Hoffman (2000) formuliert, das Kind
„erfährt eine normative Information als autonom, aus sich selbst hergeleitet“
(Übersetzung von mir).
Dadurch erhält es eine Art innerer Pflicht, den eigenen moralischen Standards zu folgen und es fühlt sich schuldig, wenn es dazu nicht fähig ist. Sozialisation als Prozess geschieht in den frühen Stufen des menschlichen Lebens vor allem durch Eltern oder andere nahe Verwandte. Später üben soziale Institutionen und Gruppen zusätzlichen Einfluss aus. Je stärker die Verbindung zu den jeweiligen Menschen und Institutionen ist, desto wahrscheinlicher ist auch die Übernahme ihrer moralischen Standards.
Entgegen der Annahme von Rawls und Habermas entstehen moralische Werte also nicht erst durch rationalen Diskurs, sondern werden bereits im Zuge der Sozialisation vermittelt und erst später Gegenstand erneuter Auseinandersetzung. Das mag trivial erscheinen, betrifft aber grundlegende Aspekte beider Theorien. Rawls wird dem zumindest partiell gerecht in seiner Überlegung, dass gewisse Prämissen gegeben sein müssen (frei, gleich, etc.), damit sein darauf aufbauendes Modell funktionieren kann.
Sowohl Habermas als auch Rawls kritisierten sowohl ihre jeweiligen Ansätze untereinander, als auch wie sie selbst zum Gegenstand der Kritik Dritter wurden. Die praktische Anwendbarkeit beider Ansätze bleibt de facto bis heute fraglich, da die notwendigen Prämissen in der tatsächlichen Interaktion realer Menschen voraussichtlich nie gegeben sein werden.
Praktische Anwendbarkeit
Entscheidend muss für eine politische Theorie sein, sofern sie einen praktischen Nutzen erfüllen soll, dass sie die Eigentümlichkeit der von ihr beschriebenen Subjekte hinreichend beachtet. Ein idealtypischer Ausgangszustand kann womöglich als unterhaltsame, intellektuelle Auseinandersetzung dienen, wird jedoch über den Horizont theoretischer Überlegungen nicht hinausgelangen.
Die interdisziplinäre Betrachtung menschlicher Gesellschaften und ihrer inhärenten Beziehungen ist von unbedingter Notwendigkeit, um eine möglichst korrekte Beschreibung der beobachteten Phänomene zu erhalten. Eine Theorie, welche die Komplexität der zu betrachtenden Akteure nicht angemessen würdigt, muss sich daher die Frage nach ihrer praktischen Anwendbarkeit gefallen lassen. Da menschliches Verhalten sowohl von biologischen als auch kulturellen Faktoren abhängig ist, kann eine Theorie, die sich nur auf einen dieser Aspekte konzentriert, niemals vollständig sein.
Rawls‘ und Habermas‘ Ansätze können dementsprechend maximal Impulse geben, worauf eine ganzheitlichere Theorie der öffentlichen Meinungsbildung achten sollte, sind allerdings weit davon entfernt, als hinreichend erklärende Modelle betrachtet zu werden.
Aus diesen Gründen erscheint es mir nicht sinnvoll, eines der Modelle demokratietheoretisch zu bevorzugen. Beide weisen bedeutende Schwächen auf und die realen Anwendungsmöglichkeiten bleiben mehr als begrenzt.
Eine politische Theorie, die den realen Lebenswelten der handelnden Akteure nicht genügend Beachtung schenkt, läuft Gefahr, als politische Utopie in den Orkus der praktischen Bedeutungslosigkeit zu stürzen.
An dieser Stelle endet die eigentliche Arbeit. Ich muss gestehen, beim erneuten Lesen, ist mir ein weiteres Mal klar geworden, wieso ich mich seit geraumer Zeit so viel schwerer damit tue, geisteswissenschaftliche Standpunkte bzw. Argumentationen tatsächlich ernst zu nehmen.
Viel zu häufig sehe ich die grundlegende Problematik darin bestehen, dass in einer realitätsfernen Bubble argumentiert wird, ohne sich überhaupt einmal empirisch damit auseinanderzusetzen, wie sich Menschen in gewissen Situationen tatsächlich verhalten.
Ich persönliche empfinde das als intellektuell unbefriedigend – und zudem auch recht nutzlos. Es wäre sicherlich verkehrt zu sagen, dass wir geisteswissenschaftliche Disziplinen nicht benötigen – ich spreche mich lediglich nachdrücklich für einen wesentlich empirischeren Zugang zu den beschriebenen Phänomen aus.
Gesellschaftliche Analysen kommen meines Erachtens längst nicht einfach nur damit aus, ein paar interessante Überlegungen darüber anzustellen, wie der Mensch sein könnte und dabei interdisziplinäre Ansätze weitestgehend zu ignorieren. Denn das ist nicht nur ein Problem älterer Theorien (wie die hier betrachteten), sondern ebenso immer noch eine Herausforderung neuerer Ideen.
Ich bin davon überzeugt, dass es fundamental wichtig ist, mehr interdisziplinäre Forschung zu betreiben – gerade in den Geisteswissenschaften. Vor allem, wenn diese auch noch in ein paar Jahren relevante Beiträge zum öffentlichen Diskurs anbieten möchten – und nicht ebenfalls im Orkus der praktischen Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen.
Fühlt euch jederzeit frei, meine Ideen zu diskutieren und eure Gedanken über die Dinge, die ich thematisiere, zu teilen. Niemand ist allwissend und wenn wir alle ein bisschen klüger als zuvor daraus hervorgehen, werden wir eine Menge erreicht haben.
Danke fürs Lesen und bleibt neugierig.
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Quellen
- Becker, Michael, 1995: Korreferat zu Uwe Gerecke, in: Leschke, Martin(Hrsg.)/Pies, Ingo (Hrsg.), John Rawls' politischer Liberalismus. Konzepte der Gesellschaftstheorie Band 1. Tübingen, 47-53
- Bessette, Joseph M., 1980: Deliberative Democracy. The Majority Principle in Republican Government, in: Goldwin, Robert A. (Hrsg.)/Schambra, William A. (Hrsg.), How Democratic is the Constitution?. Washington D.C., 102-116
- Diamond, Larry, 2004: What is Democracy, in: http://web.stanford.edu/~ldiamond/iraq/WhaIsDemocracy012004.htm; 08.03.2018
- Enoch, David, 2013: The Disorder of Public Reason, in: Ethics, Vol. 124, No. 1, 2013, 141-176
- Fehr, Ernst/Gächter, Simon, 2000: Fairness and Retaliation. The Economics of Reciprocity, in: Journal of Economic Perspectives, Volume 14, Number 3, 2000, 159–181
- Folami, Akilah N., 2013: Using the Press Clause to Amplify Civic Discourse Beyond Mere Opinion Sharing, in: Temple Law Review, Vol. 85, No. 2. 2013, 269-314
- Gibbs, John C./Basinger, Karen S./Grime, Rebecca L./Snarey, John R., 2007: Moral judgment development across cultures. Revisiting Kohlberg’s universality claims, in: Developmental Review, 27, 2007, 443-500
- Habermas, Jürgen, 1990: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt a. M.
- Habermas, Jürgen, 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechtes und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.
- Habermas, Jürgen, 1998a: The Inclusion of the Other. Studies in Political Theory. Cambridge, Massachusetts
- Habermas, Jürgen, 1998b: Die Postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a. M.
- Hedrick, Todd, 2010: Rawls and Habermas. Reason, Pluralism, and the Claims of Political Philosophy. Stanford, California
- Hoffman, Martin L., 2000: Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice. New York
- Hölscher, Lucian, 1978: Öffentlichkeit, in: Brunner, Otto (Hrsg.)/Conze, Werner (Hrsg.)/Koselleck, Reinhart (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland. Band 4 (Mi - Pre). Stuttgart, 413 – 467.
- Kohlberg, Lawrence, 1975: The Cognitive-Developmental Approach to Moral Education. The Phi Delta Kappan, Vol. 56, No. 10, A Special Issue on Moral Education, 1975, 670-677
- Papadopoulou, Theodora, 2005: Deliberative Demokratie und Diskurs. Eine Debatte zwischen Habermas und Rawls. Tübingen
- Rawls, John, 1971, 1999: A Theory of Justice. Harvard University, Cambridge, Massachusetts
- Rawls, John, 1993, 1996: Political Liberalism. Columbia University, New York Chichester West Sussex
- Rawls, John, 1995: Political Liberalism. Reply to Habermas, in: The Journal of Philosophy, Vol. 92, No. 3, 1995, 132-180
- Rienstra, Byron/Hook, Derek, 2006: Weakening Habermas. the Undoing of Communicative Rationality, in: Politikon, 33(3), 2006, 313–339
- Seubert, Sandra, 2013: Die Frage des Politischen. Bürgerschaft und demokratische Praxis bei John Rawls, in: Becker, Michael (Hrsg.), Politischer Liberalismus und wohlgeordnete Gesellschaften. John Rawls und der Verfassungsstaat. Baden-Baden, 55-70
Also ich finde deine Arbeit (die 3 Teile insgesamt) sehr gut, du behältst den roten Faden und hinterfragst gut argumentiert diese Standardmodelle der Politikwissenschaft.
Ich kann nach wie vor nicht ganz nachvollziehen, warum du dir quasi eine schlechte Note erwartet hattest? Oder hast du auf gute Gegenargumente gehofft, die deine Studiendisziplin für dich gerettet hätten?
Ich finde deine Forderung nach mehr Inderdisziplinarität und besserer Empirik in den Geisteswissenschaften absolut gerechtfertigt. Nur wer soll's machen?
Das ist, glaube ich, der entscheidende Aspekt. Ich hatte irgendwie gehofft, etwas Superwichtiges übersehen zu haben oder in meinem Fazit am Ziel vorbeigeschossen zu sein.
Kam halt irgendwie nicht. Klar, ich war schon eine Weile nicht so richtig zufrieden damit, aber das Ergebnis dieser Arbeit war vermutlich der letzte Tropfen, der nötig war.
Ich weiß es nicht. Ich finde es halt so seltsam - zumindest an meiner Uni gab es durchaus eine ganz okaye Methodik- und Statistikausbildung, aber davon merkt man halt im weiteren Studienverlauf kaum etwas - geschweige denn, wenn man sich mit der Fachliteratur beschäftigt.
Kleines Beispiel noch:
Ich bin ja ein großer Philosophiefreund - habe das aber bewusst nicht studiert, weil mir viele gesagt haben, dass dort empirische Forschung nahezu nicht stattfindet. Das mag vielleicht übertrieben sein, aber abgesehen vom Zweig der analytischen Philosophie, erscheint es auch nicht allzu weit der Realität zu sein.
Das finde ich persönlich schade - gerade weil es zum Beispiel auch für Naturwissenschaftler nicht schaden kann, zu verstehen was ein naturalistischer Fehlschluss ist (um mal das berühmteste Beispiel zu nehmen) - dafür bedarf es aber eben auch die Auseinandersetzung bzw. die Offenheit der Philosophen. Es ist eine bidirektionale Kommunikation vonnöten - und die findet, vor allem aus geisteswissenschaftlicher Perspektive, meiner Meinung nach viel zu selten statt.
Man muss sich beispielsweise nur mal anschauen, wie angefressen viele Philosophen auf die Forschung der Neurowissenschaften hinsichtlich von Willensakten reagieren.
Gewisse philosophische Grundlagen wären auch in den Naturwissenschaften nicht schlecht, da gebe ich dir recht. Bis vor 25 Jahren oder so wurden die an den Unis auch noch gelehrt. Aufgrund der immer höher werdenden Ansprüche in speziellen Gebieten wurden diese Lehrveranstaltungen dann sukzessive gestrichen, weil man irgendwo kürzen musst, tat man es natürlich lieber im fachfremden Bereich. Mit dem Ergebnis, dass man (wenn man so wie ich einen leichten Hang zur Polemik hat^^) leider viele unserer Abgänger als hochspezialisierte Fachidioten bezeichnen kann.
Aber wir haben halt trotzdem wenigstens das Luxusproblem, empirisch wesentlich genauer arbeiten zu müssen als die Geisteswissenschaften, daher fällt das wahrscheinlich nicht so auf. ;-)
Das ist wohl tatsächlich ein Luxusproblem :D
Ich habe allerdings auch das Gefühl, dass viele Paper in geisteswissenschaftlichen Fachbereichen so geschrieben sind, dass sie nach mehr Inhalt klingen als sie eigentlich bringen - etwas, das mir in naturwissenschaftlichen Studien seltener auffällt.
Ich stelle mir die Geisteswissenschaften ein bisschen so vor wie eine Naturwissenschaft ohne Peer Review. ;-P
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