Die Bedeutung von Bird Box
Manchmal stelle ich mir vor, unsere Welt sei bereits untergegangen. Die Apokalypse läge bereits hinter uns, und alles, was wir von der Zivilisation sehen, wäre nur eine Illusion, ein sehr real wirkender Traum, ähnlich wie in „Matrix“, wo die Maschinen bereits die Herrschaft an sich gerissen haben und die Gegenwart nur ein Computerprogramm ist. Vielleicht haben sich einige Überlebende der Apokalypse in eine Schutzzone gerettet, in eine verlassene Stadt z. B. oder in ein stillgelegtes Bergwerk, und dort aus lauter Verzweiflung über den Untergang der Welt angefangen, sich mittels Drogen oder technischer Geräte in einen Rauschzustand zu versetzen, und in diesem Zustand nun träumen sie, die Welt wäre noch genauso wie vor dem Untergang. Und in diesem Wahnzustand verbleiben sie so oft und so lange, dass sie ihn irgendwann für die Wirklichkeit halten.
Und wir sind diese wahnsinningen Überlebenden, die nicht wissen, dass alles längst vorbei ist. Die nicht wissen, dass die Welt, wie wir sie kannten, längst untergegangen ist, weil sie sich Scheinwelten vorsetzen und vorsetzen lassen, die ihnen vorgaukeln, es gäbe fließend Wasser, Supermärkte, eine Gesundheitsversorgung, WLAN und Netflix. Und auf Netflix gucken wir dann Filme und Serien, und diese Filme sind nur Träume in einem Traum. Wir sehen Filme, die uns den Untergang zeigen: Horror-, Zombie, Katastrophen- und Apokalypsefilme. Wie zum Beispiel Mad Max, World War Z, The Walking Dead, oder – in diesem Jahr - Bird Box.
Wenn wir der Philosophie Jean Baudrillards folgen, leben wir in einer Hyperrealität, die die längst Realität abgelöst hat, aber deswegen nicht weniger real ist: Hyperreal sind die Dinge, die nur noch als Zeichen nebeneinander stehen, aber auf nichts reales mehr verweisen. Wie Wörter, die eigentlich nichts meinen, mit denen man sich aber trotzdem verständigen kann. Oder wie Geld, das keinen Bezug zu einem realen Wert wie Gold etwa mehr hat, mit dem man aber doch etwas kaufen kann. Unsere Welt ist nur noch eine von aufeinanderverweisenden Zeichen, die nichts bedeuten: it is a tale. Told by an idiot, full of sound and fury, Signifying nothing.
Aber warum merken wir das nicht? Warum ist uns nicht bewusst, dass unser Leben unecht ist? Weil es in dieser Hyperrealität NOCH unechtere Dinge gibt. Bei Baudrillard haben Freizeitparks wie Disneyland die Funktion, uns von der Natur des Hyperrealen abzulenken. Dadurch, dass es in unserer Hyperrealität etwas gibt, was NOCH unrealer zu sein scheint, eine reine Spaß und Fantasywelt, kommt in uns nicht der Verdacht auf, dass unsere Welt gar nicht die reale Realität wäre. Im Vergleich zu Disneyland scheint die Hyperrealität ja real. Relativ real, das ist alles, worauf es ankommt. Wenn man aber in Disneyland leben würde und keine Kenntnis hätte von der „realeren“ Welt außerhalb der Freizeitparkmauern, dann wäre eine NOCH fantastischere Welt innerhalb von Disneyland nötig, ein Disneydisneyland sozusagen, damit niemand Vermutungen darüber anstellt, ob die Disneylandwelt überhaupt die wahre ist. Lustig wäre es, wenn diese Disneydisneylandwelt dann genauso aussehen würde wie die Welt außerhalb von Disneyland, die die unwissenden Disneyland-Bewohner aber nicht kennen. Das heißt, sie kennen sie schon, aber eben nur als Simulacrum, als Scheinwelt innerhalb einer Scheinwelt, die unbeabsichtigt oder vielleicht doch beabsichtigt, aber unbemerkt, auf die Natur der realen Welt hinweist. Ein Traum in einem Traum.
In UNSERER Weltuntergangswelt, die uns nur vorgaukelt, die Welt wäre noch nicht untergegangen, übernehmen diese Disneyland-Funktionen die Produktionen der Unterhaltungsindustrie. Womit wir wieder bei Netflix wären, und eben bei Bird Box. Es ist ja nicht zu übersehen, dass sich die postapokalyptischen Szenarien in den letzten Jahrzehnten gehäuft haben. Als wollte man uns irgendetwas sagen. Oder eben auch: Als wollte man uns zeigen: „SO ist die Welt nur in Serien und Filmen, also ist sie nicht in Wirklichkeit so. In Wirklichkeit ist sie so, wie ihr denkt, dass sie ist.“
Nur in einer Serie wie Bird Box ist die Welt bereits untergegangen, den Grund kennen wir nicht, und NUR in einer Serie wie Bird Box müssen die Menschen die Augen verschließen vor einem Monster, denn wenn sie seiner ansichtig werden, drehen sie durch, so wie beim Anblick von H. P. Lovecrafts Cthulhu-Wesen, und begehen Selbstmord. NUR in Bird Box tragen die Menschen Tücher vor den Augen und versuchen, als Blinde durch die Welt zu gehen. NUR in einer solchen Serie.
In Bird Box ist es die von Sandra Bullock gespielte Hauptfigur, die ihre Kinder und sich selbst zwingt, eine Augenbinde zu tragen und damit die postapokalyptische Welt durchwandern. Zudem trägt sie Vögel in einer Kiste mit sich, weil die wie der Kanarienvogel in einem Bergwerksstollen merken, wann das Unglück naht. Überleben kann die Rumpffamilie (Sandra Bullock ist eine alleinerziehende Mutter; der Vater ist mal wieder absent, wahrscheinlich vor dem Ausbruch der Apokalypse an toxischer Maskulinität erkrankt) nur, indem sie die Augen vor dem Bösen verschließt und sich einer Gruppe von Überlebenden anschließt. Darunter ist die von John Malkovich gespielte Figur des konservativen Trump-Wählers, der Waffen liebt, supermisstrauisch ist, egoistisch, voll gegen Fremde und überhaupt ein übler Macho. Lustigerweise hat er meistens recht mit seinen Warnungen. Er ist zwar ein feiger und selbstsüchtiger Idiot, der die Tür ihres relativ sicheren Unterschlupfs nicht aufmachen will, als es an der Tür klopft, weil er ja voller Hass und Hetze ist, und „das Boot ist voll “ und so ... aber die gutmütigen Gefühlsmenschen machen dann trotzdem die Tür auf und jemand stirbt. Der konservative Trump-Wähler ist zwar wutbürgerlich misstrauisch gegen zuviel Immigration in den Unterschlupf, aber irgendwie stellt sich immer heraus, dass es besser gewesen wäre, wenn die Gruppe auf ihn gehört hätte. Ach ja, und weiß ist er natürlich auch.
Die Besetzung ist übrigens so wie in der Gillette Werbung: die bösen sind die weißen Männer, und die Retter sind ... ein bisschen weniger weiß.
Einmal versucht der John Malkovich Trump Charakter sogar einen bösen weißen Eindringling zu erschießen, aber obwohl er bisher immer recht hatte mit seinen Warnungen, wird er von einer anderen Figur mit Gewalt daran gehindert; sie schlägt ihn nämlich mit einer Pfanne nieder. Anstatt also den psychopathischen Eindringling dingfest zu machen, wird der Trump-Typ außer Gefecht gesetzt. Das klingt jetzt so, als wäre der Film auf der Seite des Trump-Typs, weil der meistens recht hat und die anderen doch nur warnen will – aber das ist nicht so. Er wird als lächerliche, feige, toxisch maskuline, fremdenfeindliche Figur eingeführt und etabliert, und das ändert sich auch nicht im Verlauf der Handlung. Außerdem trinkt er Whiskey. Dass es in einer postapokalyptischen Welt eher klug ist, misstrauisch zu sein, und dass es sogar weise ist, seine Waffen nicht abzugeben – all das nutzt ihm nichts. Und dass die Gruppe besser dran gewesen wäre, wenn sie auf ihn gehört hätte, ist eher so eine Ironie des Schicksals – oder eine sehr unterschwellige Botschaft an uns Bewohner des Disneylands. Die Dummheit der Masse, also der anderen in der Gruppe, sorgt schließlich dafür, dass es mit dem Trump-Typen ein Böses Ende nimmt.
Sandra Bullock schafft es dann aber noch, mithilfe des charakterlich perfekten edlen Ritters in schimmernder Rüstung, der sich für sie opfert, der aber das genaue Gegenteil des bösen Trump-Typen ist, in eine Art Schutzzone, einen safe space. Das ist ein Haus, das eine multikulturelle Blindenschule beherbergt, und die überlebenden Weißen darin sind dann auch tatsächlich blind.
Das ist also unsere alternative Gegenwart. Oder unsere Zukunft? Oder unsere Vergangenheit? Wird uns hier gezeigt, wie wir hierhergekommen sind – was bisher geschah? Und wird es uns nur gezeigt, damit wir unsere Welt nicht hinterfragen, weil es eben Fiction ist - damit wir nicht merken, dass es Realität ist? Leben wir bereits in einem Blindenheim, zusammen mit Menschen, die nur überleben, weil sie vor dem Bösen die Augen geschlossen haben?
Manchmal fragen die woken Kinogänger ja, warum man es uns so deutlich ins Gesicht reibt, was man so denkt und vorhat. Warum die ganzen Anspielungen und Symbole: I wie Ikarus, Wag the Dog, Matrix, Zurück in die Zukunft, Bird Box? Macht man sich da oben lustig über uns? Aber denkt daran: Der Teufel sagt Faust vorher auch explizit, was er mit seiner Seele vorhat. Damit hinterher niemand sagen kann, er hätte von nichts gewusst.
Der böse Dämon wird nie direkt gezeigt, nur indirekt, in seinen Auswirkungen. Wir erfahren also während des gesamten Films nicht, wie das Monster genau aussieht. Warum es nicht in Gebäude oder Autos eindringen kann. Und was es böse macht. Wir wissen nicht, was das Böse ist, das die Leute veranlasst, durchzudrehen, wenn sie es sehen. Das eröffnet natürlich eine Menge an Deutungsmöglichkeiten:
Was ist das, vor dem du die Augen verschließt? Was ist das, wovor du Angst hast? Was ist zu schrecklich, als dass du es akzeptieren und dann wie zuvor weitermachen könntest. Was wird dich bei seinem Anblick wünschen lassen, du wärest tot? Kannst du die Wahrheit über die Welt ertragen, auch wenn sie so hart ist, dass dein Leben von nun an ruiniert sein wird? Dass du an allem zweifeln wirst, dass du alles für eine Lüge halten wirst, dass du deswegen einsam und allein sein wirst und niemals mit jemandem darüber sprechen kannst – es sei denn, du verpackst es in eine schöne Gruselgeschichte?
Anders gefragt: Was solltest du nicht sehen, wenn du überleben willst?
Ist es der Rechtsruck in der Gesellschaft? Ist es der menschengemachte Klimawandel? Nun, das müssen wir für uns selbst herauskriegen, Netflix kann uns die Tür nur zeigen, hindurchgehen müssen wir selber.
Falls wir uns dann daran gehalten haben und uns und unseren Kindern die Augen verschlossen haben, kommen wir in eine Schutzzone, in der alle die überleben, die ebenfalls ihre Augen vor dem Bösen auf der Welt verschlosen haben. In dieser Schutzzone, die unsere Welt ist, können wir nur friedlich miteinander zusammenleben, wenn wir blind bleiben; wenn wir so tun, als gäbe es da draußen keine Probleme, wenn wir in unserer Filterblase bleiben, das Böse ignorieren und niemandem auf die Nerven gehen. Wir sind wie Kinder, die sich im Schrank verstecken und hoffen, dass das Monster sie nicht findet.
Bird Box ist ein umgekehrtes Höhlengleichnis: Die Menschen fliehen aus der Wirklichen Welt in die der Blinden und Gefesselten. Sie regredieren wie die Kinder zurück in die Höhle der Unwissenheit. Diese Höhle ist die Baudrillard’sche Hyperrealität – full of sound and fury, Signifying nothing.
Eines Schatten Traum sind die Menschen darin. Bei Platon wird derjenige, der die Höhle verlassen und die wirkliche Gestalt der Dinge gesehen hat, von den Höhlenbewohnern verspottet und für verrückt gehalten. Dabei sind SIE es doch, die verrückt sind und die Abbilder an der Wand für die Wahrheit halten. Bei Bird Box sterben diejenigen, die die schützende Höhle verlassen, oder sie werden selber zu Mördern. Bei Platon ist die Höhle das, was dich unfrei macht. Bei Bird Box ist das, was dich unfrei macht, zugleich deine einzige Rettung. Sklaverei ist Frieden.
Bei Platon ist die Sonne außerhalb der Höhle die Idee des Guten, der alle anderen Ideen und die gesamte Welt der Erscheinungen ihre Existenz verdanken. Die Wahrheit wird dich befreien. Bei Bird Box ist die Wahrheit das Böse, dass dich umbringen wird. In dem französischen Film „I wie Ikarus“ heißt es:
„Wenn die Sonne als Symbol der Wahrheit genommen wird, so habe Ikarus seine Flügel verloren, weil er der absoluten Wahrheit zu nahegekommen sei“.
Bei Platon heißt es: Mache dich von deinen Fesseln frei, nimm die anstrengende Reise, den Aufstieg aus der Höhle auf dich und erblicke das Licht der Wahrheit. Lerne zu sehen, Öffne deine Augen. Wissen ist Macht. Die Nachricht von Bird Box hingegen lautet: Unwissenheit ist deine einzige Möglichkeit, dem Tod zu entgehen. Sieh nicht hin, wenn du leben willst.