Die erfundene Herkunft - Wie Ideologie wissenschaftliche Vorsicht ersetzt – der Fall der „Beachy Head Woman“
Manchmal erzählt ein einzelner Schädel mehr über unsere Gegenwart als über die Vergangenheit.
Im Jahr 2013 wurde an der englischen Küste bei Beachy Head ein menschlicher Schädel aus der Römerzeit untersucht. Auf Grundlage morphologischer Merkmale – konkret: Schädelvermessungen – ordneten Wissenschaftler die Verstorbene einer „Subsahara-afrikanischen Herkunft“ zu. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Begeistert griff die BBC den Befund auf und erklärte die Frau zur „ersten schwarzen Britin“.
Was folgte, war nicht bloß Berichterstattung, sondern Narrativbildung.
Im Rahmen der BBC-Reihe „Black and British: A Forgotten History“ (2016) wurde eine Gedenkplakette des BBC History Projects angebracht – nicht direkt am Fundort, sondern in einem nahegelegenen Cricket-Pavillon. Die Botschaft war dennoch eindeutig: Schwarze Menschen seien nicht nur früh in Großbritannien gewesen, sondern gehörten faktisch zur indigenen Urbevölkerung. Geschichte wurde hier nicht erklärt, sondern symbolisch aufgeladen.
Das Problem: Die wissenschaftliche Grundlage war von Beginn an unsicher – und das hätte deutlicher kommuniziert werden müssen.
Schädelvermessung: eine diskreditierte Methode
Die Zuordnung von „Rassen“ anhand von Schädelmerkmalen gilt seit Jahrzehnten als hochproblematisch. Gerade in Europa ist diese Methode historisch belastet und wissenschaftlich umstritten. Nach 1945 wurde sie nicht ohne Grund weitgehend aufgegeben oder zumindest stark relativiert.
Umso bemerkenswerter ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die BBC diese Methode akzeptierte – offenbar, weil das Ergebnis gut in ein zeitgenössisches Deutungsmuster passte. Skepsis wich Euphorie, Vorsicht wich Bestätigung.
Ein schrittweiser Zweifel
Bereits in den Jahren nach der medialen Zuspitzung gab es Hinweise darauf, dass die ursprüngliche Zuordnung nicht haltbar sein könnte. Unvollständige oder nicht publizierte DNA-Analysen deuteten zeitweise auf eine Herkunft aus dem Mittelmeerraum, etwa Zypern, hin. Diese Unsicherheiten führten dazu, dass die Gedenkplakette später stillschweigend entfernt wurde – ohne öffentliche Korrektur der zuvor verbreiteten Erzählung.
Auch Teile der BBC-Serie selbst wurden im Nachgang angepasst; einzelne Segmente verschwanden oder wurden kontextualisiert. Eine transparente Richtigstellung blieb jedoch aus.
Der öffentliche Eindruck blieb somit bestehen: Die „erste schwarze Britin“ war längst Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden.
Die DNA sagt etwas anderes
Erst die umfassende DNA-Analyse von 2025 brachte endgültige Klarheit. Ihr Ergebnis ist eindeutig:
Die sogenannte „Beachy Head Woman“ war blond, blauäugig und stammte genetisch aus Südengland. Es fanden sich keine Hinweise auf eine subsaharische Herkunft. Das zuvor gefeierte Symbol zerfiel damit endgültig.
Was bleibt, ist nicht die Enttäuschung über ein Forschungsergebnis – Irrtümer gehören zur Wissenschaft –, sondern die Frage:
Warum wurde aus einer unsicheren Hypothese ein öffentlich zelebrierter Fakt?
Wenn Haltung Erkenntnis ersetzt
Der eigentliche Skandal liegt nicht im Irrtum selbst, sondern im Umgang mit Unsicherheit. Wissenschaft lebt von Vorläufigkeit, Medien von Einordnung. In diesem Fall jedoch wurden methodische Zweifel zugunsten einer moralisch erwünschten Erzählung zurückgestellt.
Identitätspolitik wurde nicht lediglich illustriert, sondern wissenschaftlich legitimiert, ohne die nötige Distanz. Dass ausgerechnet ein öffentlich-rechtlicher Sender dabei auf eine historisch belastete Methode zurückgriff, verleiht dem Fall eine bittere Ironie.
Geschichte ist kein Korrektiv der Gegenwart
Der Fall zeigt exemplarisch, wie leicht Geschichte zur Projektionsfläche aktueller Debatten wird. Anstatt die Vergangenheit in ihrer Fremdheit auszuhalten, wird sie umgeformt, um heutige Narrative zu bestätigen.
Doch Geschichte schuldet uns keine Bestätigung.
Und Wissenschaft schuldet uns keine Erzählung – sondern Wahrheit, so unbequem sie auch sein mag.
Der Schädel von Beachy Head erzählt am Ende keine Geschichte über „schwarze Briten“, sondern über eine Gegenwart, die zu oft das sehen will, was sie sehen möchte.
Quellen & Hinweise
- BBC: Black and British – A Forgotten History (2016)
- DNA-Studie zur „Beachy Head Woman“, veröffentlicht 2025
- Berichterstattung u.a. bei CNN zur genetischen Neubewertung des Fundes