"Kollektive Evolution" > Reform > Revolution - Beitrag aus der Reihe #OneHourPerWeekForOurFuture

in #deutsch4 years ago

Viele unserer Probleme als Menschheit resultieren aus problematischen Strukturen. Sie sind durch bestimmte Rahmenbedingungen entstanden. Sie reproduzieren sich laufend, auf Basis ihrer selbst und auf Basis ihrer Rahmenbedingungen. Das geschieht auch, wenn sie von außen betrachtet stabil und unveränderbar wirken.

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Häufig gibt es eine Vielzahl von Rahmenbedingungen, die für die Entstehung und Reproduktion von Strukturen relevant sind. Und es gibt eine Vielzahl von Wechselwirkungen:

  • Zwischen Rahmenbedingungen und Rahmenbedingungen
  • Zwischen Struktur und Struktur
  • Zwischen Wechselwirkungen und Wechselwirkungen
  • Zwischen allen möglichen Konstellationen dieser Parameter

Rasch erreicht eine Struktur hohe Komplexität, häufig sehr hohe Komplexität.

Dadurch entsteht mehr oder weniger viel Resilienz, also eine Widerstandskraft, die der Veränderung einer Struktur entgegenwirkt.

Ist ein Wandel dieser Struktur notwendig, ist diese Resilienz also ein Hindernis, das es zu überwinden gilt.

Ist der Wandel vollzogen, ist die Widerstandskraft ein Segen, denn sie stabilisiert auch das, was mit dem Wandel erreicht wurde.

Wie verändert man Strukturen wirksam und zugleich effizient?

Indem die Strukturen sich selbst verändern, auf emergente Weise.

Wie bringt man Strukturen dazu, sich selbst auf emergente Weise zu verändern? Indem man in vielen, meist kleinen Schritten die Rahmenbedingungen verändert, aus denen Strukturen sich laufend reproduzieren und sich ansonsten auf die Emergenz verlässt.

Auf diese Weise findet Evolution statt.

Wie unterscheidet sich diese Evolution von einer Revolution?

Bei einer Revolution wird eine Struktur schockartig drastisch verändert oder sogar zerstört. Bei mehr oder minder gleichbleibenden Rahmenbedingungen inklusive deren Wechselwirkungen, wird zwangsläufig wieder eine in ihrem Wesen mehr oder minder gleiche Struktur folgen – auf emergente Weise. Sie mag anders aussehen oder anders genannt werden, in ihrer Essenz wird sich nicht viel verändert haben.

Das zeigte sich in der Geschichte der Menschheit wieder und immer wieder. Wir kennen sogar eine Redewendung dafür:

„Alter Wein in neuen Schläuchen.“

Wie unterscheidet sich diese Evolution von einer Reform, die auf Technokratie und/oder einem mechanistischen Weltbild beruht?

Bei einer derartigen Reform werden komplexe Probleme oft auf eine Weise adressiert, bei der man unterstellt, dass es sich um komplizierte Probleme handeln würde.

Worin besteht der Unterschied zwischen Kompliziertheit und Komplexität?

Ist etwas kompliziert, so kann man es verstehen. Einem bestimmten Input steht ein bestimmter Output gegenüber und man versteht, wie aus dem Input der Output wird. Es gibt also ein Programm, das aus einem nachvollziehbaren „Code“ besteht.

Ist etwas komplex, so kann man es nicht gänzlich verstehen. Mitunter kann man es gar nicht verstehen – und dennoch in gar nicht so wenigen Fällen bei einem bestimmten Input eine mehr oder weniger vorhersagbare Bandbreite an Outputs erhalten. Was dazwischen geschieht, kann sogar gänzlich im Dunkeln bleiben.

Der Mensch ist sehr anfällig dafür, Komplexität mit Kompliziertheit zu verwechseln, was sich auf vielfältige Weise äußert, nicht zuletzt in der Wissenschaft: Reduktionismus, mechanistisch motivierte Paradigmen, Occam’s Razor etc etc.

Wenn es darum geht, etwas zu erforschen, etwas begreifen zu wollen, dann ist dabei der Reduktionismus ein wichtiges, vielfach aber nicht hinreichendes Hilfsmittel. Und man darf ihn nicht zum Herrscher über den eigenen Erkenntnisprozess machen, er muss ein Kniff bleiben, der dann zum Einsatz kommt, wenn es nicht anders geht.

Wenn es darum geht, Strukturen zu gestalten, zu verändern und zu steuern, dann kann Reduktionismus rasch zur Ursache extremer Fehlentscheidungen werden.

Noch ein Beispiel für Kompliziertheit und Komplexität: Die Newtonsche Mechanik steht für Kompliziertheit. Die Quantenmechanik steht für Komplexität.

Die Newtonsche Mechanik ist eine Näherung, ein Spezialfall – und bei einfachen, in ihrer Natur „technischen“ Problemstellungen wunderbar dafür geeignet, um diese zu lösen.

Würde man versuchen, damit Probleme zu lösen, zu deren Lösung eine adäquate Berücksichtigung der Quantenmechanik erforderlich ist, so scheitert man.

Ein Beispiel mit hoher Praxisrelevanz zeigt sich seit einigen Jahren in der Informationstechnologie: Die Schaltkreise sind so klein geworden, dass es zu quantenmechanischen Effekten kommt. Um dieses natürliche Hindernis zu überwinden, etwa für eine deutliche Leistungssteigerung bei der Suche in extrem großen Datenbanken oder bei der Faktorisierung großer Zahlen, wurde mit der Entwicklung von Quantencomputern begonnen. Sie bauen auf das Superpositionsprinzip sowie auf die Quantenverschränkung und somit auf Komplexität.

Übertragen wir das einmal auf die Lösung eines Puzzles, damit haben die meisten von uns eigene Erfahrungen.

Das „Newtonsche Puzzle“

In noch zu vielen Fällen verhalten wir Menschen uns so, als ob unsere großen Probleme die uns bekannten „Newtonschen Puzzles“ wären: Mit einer festen Anzahl unveränderlicher Puzzleteilchen, also mit einem komplizierten Problem, für dessen Lösung vorab feste Regeln definiert werden können, bei voller Kenntnis über deren Bedeutung und Auswirkungen auf das Ergebnis. Es gibt unterschiedliche, mehr oder weniger wirksame Methoden, so ein Puzzle zu lösen.

Das „quantenmechanische Puzzle“

Viele unserer großen Probleme sind im übertragenen Sinne aber „quantenmechanische Puzzles“, die aus einer immens hohen, sich laufend verändernden Zahl von Puzzleteilchen bestehen, deren Form und deren aufgedrucktes Bild sich ebenfalls laufend verändern, teilweise auch simultan zu Änderungen, die wir selbst an Puzzleteilchen vornehmen und sehr häufig dann, wenn wir sie beobachten. Wie soll man so ein Puzzle lösen? Die uns bekannten Methoden versagen, was sich auch dann nicht ändert, wenn wir ihr Versagen ignorieren oder es immer wieder mit diesen Methoden versuchen.

Was würde geschehen, wenn die Lösungsansätze selbst komplexer werden würden?

In welche Richtung könnte ein komplexer Lösungsansatz in diesem Gedankenexperiment gehen?

Welche Ideen hast du dazu? Wir haben dazu keine überprüfbaren Ideen, aber zum Glück haben wir es mit anderen Problemstellungen zu tun, für die es vielfach konkrete Ansätze für Komplexität in den Lösungen gibt.

Der Kybernetiker Ross Ashby hat das Gesetz von der erforderlichen Varietät formuliert:

„Ein System, welches ein anderes steuert, kann umso mehr Störungen in dem Steuerungsprozess ausgleichen, je größer seine eigene Handlungsvarietät ist.“

Je höher die innere Komplexität eines Lösungsansatzes ist, desto besser eignet er sich dafür, ein komplexes Problem zu lösen. Und genau so funktioniert auch Evolution, indem über eine Kombination von Vielfalt in Form vieler kleiner Anpassungen und Reproduktion (= „Iteration“) dynamisch jene Lösungen erarbeitet werden, die im Zeitablauf „fit for survival“ sind und bleiben.

Evolution ist zur positiven Veränderung von problematischen komplexen Strukturen stark überlegen und die gute Nachricht ist, dass sie sich fördern lässt. Wir Menschen werden immer schlauer und besser darin, auf diese Weise zu agieren und der Emergenz ihren Raum zu lassen. Das vollzieht sich parallel in vielen unterschiedlichen Teilbereichen.

Könnte man die heutigen Erfahrungen und Fähigkeiten zur Entwicklung komplexer Lösungen mit einem Fingerschnipp der gesamten Menschheit vermitteln und einen Zeitsprung in die nicht allzu ferne Zukunft machen, dann würde man diese Menschheit nicht wiedererkennen – in einem überaus positiven Sinne. Kann man aber nicht.

Was wir machen können: Dazu beitragen, dass sich das derzeitige einschlägige Wissen und die Erfahrungen Schritt für Schritt verbreiten. Dazu beitragen, dass Schritt für Schritt die Rahmenbedingungen verbessert werden, um die Wahrscheinlichkeit für positive emergente Entwicklungen zu erhöhen und ihnen jenen Raum und jene Zeit zu ermöglichen, die sie benötigen. Das „quantenmechanische Puzzle“ setzt sich von selbst zusammen, ohne unser Zutun – aber nicht nur einmal, sondern laufend, es iteriert praktisch vor sich hin. Was unser Zutun mehr oder minder stark beeinflusst, ist lediglich, was auf dem zusammengesetzten Puzzle zu sehen ist.

TURNOSPERO ist Teil dieser „kollektiven Evolution“. Mit unseren Projekten und Tätigkeiten tragen wir dazu bei, die Rahmenbedingungen zu verbessern, Schritt für Schritt günstige Bedingungen zu schaffen für den notwendigen, sich selbst vollziehenden Wandel und seine laufende Selbsterneuerung. TURNOSPERO bietet keine fertigen Lösungen, keine Ideologien oder Dogmen an. TURNOSPERO erleichtert den Menschen die Schritte, die sie selbst auf diesem Weg zu gehen haben.

Günther Lehner, 10. Juli 2020

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