SCHLAFLOS IN BIENENBÜTTEL – Eine Kurgeschichte.
„Du brauchst keine Angst du haben, der Elvis ist ein ganz Lieber”, erklärt sie mir, während die Ratte zum ersten Mal aus ihrer Jacke krabbelt. Angst habe ich allerdings keine. Elvis hat glänzendes Fell und blickt mich mit Knopfaugen an. Zaghaft klettert er von ihrem Bauch auf meinen Oberarm und verweilt dort einen Moment. „Schau, er mag dich!”, sagte sie und lächelt mich an. „Aber jetzt sag doch mal, was du in Berlin machst?” fragt sie. „Physik. Also, ich studiere Physik”, sage ich stockend. „Wow, das ist doch sicher total schwer oder?”, erwidert sie. „Geht schon.” sage ich und schaue auf meine Fingernägel. Gekaut habe ich schon lange nicht mehr, bemerke ich still. „Na, ich hab ja damals eine Ausbildung gemacht, mein Zeugnis war nicht so gut, weißt du? Ich wollte einfach Geld verdienen”, erzählt sie, während ich Elvis beobachte. Ich sage nichts. Dafür spricht sie. Ich kenne sie erst seit etwa 43 Minuten und mir ist nicht klar, wie ich in diese Situation gekommen bin.
Am Hamburger Hauptbahnhof steigen wir aus. „Gleis 3 Richtung Uelzen" flüstere ich vor mich hin. Sie leidet unter Narkolepsie und schläft oft ein. Wenn das passiert, kippt ihr gewichtiger Körper langsam zur Seite. „Es ist wichtig, dass du keine Panik bekommst", erklärt sie mir zum dritten Mal. Beim Laufen muss sie sich an mir abstützen, da ihr das gehen schwer fällt und sie fast blind ist. Gemächliches Spazierengehen ist etwa 3 km/h schnell. Unsere geschätzte Geschwindigkeit: 0,8 km/h. Noch 300 Meter zu laufen und 26 Minuten Zeit. Klingt machbar, aber bei diesem Tempo sind wir noch 22 Minuten unterwegs. Vielleicht schaffe ich eine Vier-Minuten-Zigarette. Erschöpft fragt sie: „Können wir kurz in den Buchladen?” Langsam steigt der Puls. Die Zeit wird knapp. Noch zwei Minuten zum Rauchen. Der Buchkauf zieht sich. Vielleicht zwei, drei Züge von der Zigarette.
Sie will auf den Aufzug warten. Der Zug fährt ein. Keine Zigarette.
Ich will dem Schaffner ein Zeichen geben. Während ich mich von ihr loslöse, stößt sie einen spitzen Schrei aus: „Verlass mich nicht!" Ein Pfiff ertönt. Der Zug fährt ab, meine Augen sind fest auf das letzte Abteil gerichtet. „Sei mir bitte nicht böse!", jammert sie. „Bin ich nicht", erwidere ich und krame in meiner Tasche nach der Zigarettenschachtel. „Verdammt”, rutscht es aus mir heraus.
Sie redet von ihrer Jugend. Ich schaue auf die Uhr, auf das Gleis und wieder auf meine Fingernägel. „Ich muss kurz neue Zigaretten kaufen gehen”, sage ich und richte mich auf. „Nein, bitte! Du kannst mich nicht alleine lassen. Wer weiß, was passiert!” Zögernd sinke ich zurück auf meinen Kunststoffsitz. Keine Raucher hier. Elvis schnuppert sanft an meiner Hand. Du bist ziemlich dufte, Kleiner, denke ich. Sie sagt, dass sie eigentlich nicht heiraten wollte. Ich sage nichts. Wo ist denn jetzt ihr Ehemann? Drei Kinder spielen, zwei Opas fluchen, ein Zug fährt vorbei. Dann ist es 11:57 Uhr. Ein Pfiff. Wir fahren Richtung Uelzen. Einen Augenblick lang ist alles still.
Tiefes Schnarchen holt mich zurück. Fluchtartig springt Elvis von ihrem Kragen auf meinen Arm, während sie langsam zum Fenster gleitet. Der letzte Passagier, der sich von dem sinkenden Schiff rettet. Frauen und Ratten zuerst! Schmunzelnd schau ich zu Elvis. Wenn es ihr gut geht, ballt sie die Faust und zeigt mit einem Daumen nach oben. So kommuniziert sie in ihren Zwangspausen mit mir. Noch 15 Minuten bis Uelzen. Kurzer Stop in Bienenbüttel. Ich muss an den Titelsong von Titanic denken. Während Elvis nach Krümeln in meinem Strickpullover sucht, wacht sie auf und ich denke über den Umstieg nach. Sie fährt mit bis nach Berlin. Dreimal umsteigen. Meine Gedanken rattern, kalkulieren, berechnen Wahrscheinlichkeiten, schätzen Geschwindigkeit. Es muss bis zum nächsten Gleis etwa 100 Meter Strecke zurückgelegt werden. Normalerweise 2 Minuten spazieren und 4 minuten rauchen. Bei einer Geschwindigkeit von 0,8 km die Stunde verpassen wir den Anschlusszug knapp. Wir müssen schneller werden, um es rechtzeitig zu schaffen. Bad Bevensen liegt hinter uns. Noch 3 Minuten. 2 Minuten. 1 Minute. Schlaf jetzt bitte nicht ein. Wir steigen aus. Sie möchte ein Snickers. Ich möchte ankommen. „Das geht nicht, der Zug kommt gleich”, sage ich bestimmt und navigiere zum nächsten Gleis. Jemand raucht und ich frage im Vorbeigehen nach einer Zigarette, die ich mir dann hinter das Ohr klemme. Ich bugsiere meine Begleitung mit etwa 1,1 km/h zum Gleis 304. Wir sind gut in der Zeit. Mein Herz klopft. Ihre Augen fallen zu. 5 Meter vor der Tür erklingt ein hoher Pfeifton. Panisch, das Déjà-vu vor Augen, rufe ich nach Unterstützung. Die Zigarette fällt zu Boden. Hilfe kommt – ein Schaffner erkennt die Lage. Dann ist sie im Zug und ich bedanke mich beim Schaffner. Ich will ihr hinterher gehen, dann bleibe ich stehen. Die Tür fällt zu. Ein letzter Pfiff. Der Zug fährt davon. Ohne mich. Ich schaue dem Zug hinterher und hoffe, dass Elvis zurechtkommt.
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Liebe Steemit-Gemeinde,
das hier ist meine erste Kurzgeschichte. Ich habe sie im Rahmen einer Schreibprobe verfasst. Da mir diese Art zu schreiben recht neu ist, habe ich eine Menge neuer Sachen dabei gelernt. Die Angabe verbat es mir leider, mehr als 5000 Zeichen zu schreiben, was ich persönlich sehr schwierig finde, um eine Geschichte sich entfalten zu lassen. Trotzdem habe ich gedacht, ich teile sie mit Euch. Jetzt seid Ihr dran: Was ist Euch schon in der Bahn passiert? Ich liebe verrückte Geschichten und noch viel mehr, wenn sie wahr sind. Klickt doch einfach mal auf REPLY und teilt Eure Geschichte mit mir. Ansonsten freue ich mich natürlich auch immer über Euer Feedback. In dem Sinne: Vielen Dank fürs Lesen und bis bald!