Eine freie Gesellschaft braucht ein Fundament. Teil 36 (Struktur der kandidatengebundenen Listenwahl)
Struktur der kandidatengebundenen Listenwahl
Die Form, in der man in Staatsgesellschaften wählt, wird mancherorts in Frage gestellt. Die derzeit übliche Repräsentantenwahl sei gar keine echte Wahl. Sie sei nur dem Schein nach ein Wählen. Mit einem Auswählen, so wie wir das von einem durch Wettbewerb bestimmten Markt her kennen, hätten die politischen Wahlen nichts zu tun. Außerdem: Der amerikanische Ökonom und Nobellpreisträger Kenneth Arrow hatte bereits 1949 mathematisch bewiesen, dass es ein Wahlverfahren im Sinne eines echten, durch die wählenden Individuen vorgenommenes, also wirklich demokratisches Auswählen auf der Basis des Mehrheitsprinzips gar nicht geben kann. Auch andere Theoretiker sehen bei den heute üblichen Wahlen eine defizitäre Struktur, sofern sie auf Mehrheitsentscheiden beruhen. In seinem Buch „Die verflixte Mathematik der Demokratie“, in dem er die Mathematik der bekanntesten auf Mehrheitsentscheiden aufgebauten Wahlmodelle untersucht, kommt George Szpiro zu dem ernüchternden Ergebnis: „Alle Wahlmethoden und Zuteilungsverfahren haben ihre Unzulänglichkeiten.“ - Diese und andere Behauptungen sind an Hand der Ergebnisse zu verifizieren, die die Analyse der kandidatengebundenen Listenwahl hervorbringt.
Von einer wahrhaft demokratischen Wahl darf erwartet werden, dass sie für alle Wahlberechtigten frei und gleich ist. So sind alle Schöpfer und Kommentatoren politischer Wahlordnungen äußerst bemüht, den drei Naturrechtsprinzipien Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit in ihren Werken Geltung zu verschaffen. Nun ist aber die politische Wahl in Form einer kandidatengebundenen Listenwahl von Direktiven bestimmt, die sich, wie ich bereits früher (1999-2002 siehe auch #mein-fall) am Beispiel Deutschlands gezeigt hatte, durch folgende Merkmale kennzeichnen lassen:
- Vor der Wahl werden Wahlkandidaten bestimmt (§§ 21 und 27 Bundeswahlgesetz). Die Wähler erhalten Listen, an Hand derer sie die dort aufgeführten Kandidaten (oder Kandidatengruppen, denn auch die politischen Parteien fungieren als Kandidaten) durch Ankreuzen auswählen sollen. An der Auswahl der Kandidaten ist die Wählerschaft als ganze nicht beteiligt. Zwar ist die Allgemeinheit des Zugangs zur Wahl für alle kalendarisch Erwachsenen nicht behindert. Die Auswahl derjenigen jedoch, die auf den Wahllisten als Kandidaten aufgeführt sind, vollzieht sich unter Ausschluss der Wählerbasis. Das bedeutet: keine Allgemeinheit der Wahl.
- Die Stimmen der Kandidaten-Auswähler zählen mehr, sind also privilegierter als die der übrigen Wähler. Dann zählt ihre Stimme noch ein zweites Mal, bei der eigentlichen Wahl. Dabei entsteht die Frage: Welches ist denn nun die eigentliche Wahl? Ist es die Kandidatenauswahl für eine Wahlliste oder die Auswahl der Kandidaten aus einer Wahlliste? Unerachtet der Antwort auf diese Frage: die kandidatengebundene Listenwahl ist eine verkappte Zweiklassenwahl. Es finden hier Wahlgänge mit unterschiedlichen Wählergruppen statt. Das bedeutet: Ungleichheit der Wahl.
- Die vorgefertigten Kandidatenlisten werden den Wählern als Stimmzettel ausgereicht (§ 30 und §§ 34 ff Bundeswahlgesetz). Nur im Rahmen der Stimmzettel können sie eine Entscheidung treffen. Außerdem gibt es feste Wahlperioden mit vorherbestimmten Wahlterminen (Art. 39/1 des deutschen Grundgesetzes in Verbindung mit § 1 Bundeswahlgesetz). Einmal Gewählte können sich für eine bestimmte Zeit auf ihren Posten einrichten. Ihre Abwahl kann erst nach Ablauf einer „Wahlperiode“ erfolgen. Das bedeutet: keine Freiheit der Wahl.
Eine kandidatengebundene Listenwahl kann also weder als wahrhaft frei, noch als wahrhaft allgemein, noch als wahrhaft gleich bezeichnet werden. Wie in anderen politischen Bereichen erscheinen hier die drei Naturrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Was wir heute als „demokratische“ Wahl vorfinden, ist eher die Parodie eines Auswahlvorgangs. Der Eindruck verstärkt sich im Falle Deutschlands noch dadurch, dass die Gewählten ihre Wahl selbst kontrollieren. Denn „die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages“(Art. 41/1 GG). Was das bedeutet und wo in solch einer Konstellation der Hacken, sogar Betrug steckt, zeige ich ganz deutlich in Teil 37 und dort wird es richtig spannend, und ganz genau wird es in #mein-fall vorgestellt, der im Nachgang zu Teil 37 in #freie-gesellschaft umfänglich ausgeweitet wird.
Der Satz „In der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus“ (Art. 20/2 GG) wird so lange eine hohle Phrase - die Souveränitätsphrase - bleiben, bis gesichert ist, dass jedes mündige Mitglied der Gesellschaft (Allgemeinheit) unterschiedslos (Gleichheit) demjenigen über sich Macht verleihen kann, den es aus der Gesamtheit seiner Mitgesellschafter selber (Freiheit) ausgesucht hat. Insofern darf es keine vorher von anderen bestimmten Kandidaten für die Auswahl geben. Wie so etwas zu organisieren ist, steht an dieser Stelle nicht zur Debatte (dazu verwende ich einen eigenen Teil für #freie-gesellschaft). Hier sind nur die Defizite des üblichen Wahlgebarens zu zeigen und es ist auf die Folgen aufmerksam zu machen, die sich daraus für die Legitimation einer sog. „Volksvertretung“ ergeben.
Weil eine Wahl stets allgemein, frei und gleich sein sollte, wird es, solange es Wahlen gibt, denjenigen, die noch einen Rest Rechtsinstinkts in sich haben, ein Dorn im Auge sein, dass vor der offiziellen Wahl schon eine andere (die eigentliche?) Wahl stattfindet, bei der die Kandidaten ausgewählt werden, die dann allein noch zur Wahl stehen. Bei der Durchsicht der Kandidatenliste fallen den Wählern vielleicht Leute ein, die die vakanten Positionen besser ausfüllen könnten als die vorbestimmten Kandidaten. Jedenfalls werden sie es als das freiere Recht ansehen, ihre Stimme beliebig denen zu geben, die sie aufgrund persönlicher Erfahrung für die anstehenden Aufgaben geeignet halten. Dass daraus nicht notwendig Chaos entsteht, sehen wir an den Wahlentscheidungen der „Demokratie des Marktes“ (Ludwig von Mises, Carl Christoph von Weizsäcker). Diese finden völlig „kandidatenfrei“ statt und bringen trotzdem - und zwar spontan - Ordnungen hervor.
Nicht dass ich geradewegs behaupten wollte, Wahlkandidaten würden bei den derzeitigen Wahleinrichtungen immer durch entsprechende Maßnahmen „von oben“ bestimmt, aber es besteht die Möglichkeit dazu, dies trotz gesetzlicher Regelungen - etwa in einem Parteiengesetz. Ein kandidatenfreies Wahlsystem hingegen schließt diese Möglichkeit prinzipiell aus.
In einer Gesellschaft mit kandidatengebundener Listenwahl findet das alltägliche Leben und Treiben der Listenplatzhalter jenseits des Erfahrungshorizonts des Wahlvolks statt. Man kennt nicht wirklich, was man wählen soll. Die Wahlkandidaten sind den Wählern fremd.
Schon die Missachtung der Prinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit machen eine kandidatengebundene Wahl zur Farce. Das größte Manko dieser Wahl ist jedoch die Anonymität der zu Wählenden. Sie ist bedingt durch die fehlende Unmittelbarkeit des Auswahlvorgangs, obwohl diese im Grundgesetz (Art. 38 (1) Satz 1 GG) explizit als Voraussetzung gefordert wird (hier wird ein juristischer Taschenspielertrick angewendet, zu dem ich weiter unten noch ganz kurz Stellung beziehe)
Der Begriff Unmittelbarkeit im Zusammenhang mit heutigen politischen Wahlen hat einen völlig neuen Sinn erhalten. Hier geht es um eine „Unmittelbarkeit“, die durch Vermittlung von Medienleuten und Wahlkampfmanagern zustande kommt. Dadurch wird aber die Unmittelbarkeit gerade verhindert. Mit der Unmittelbarkeit der Auswahl in anderen Lebensbereichen, z. B. bei der Warenauswahl am Markt (wo selbst bei Katalogeinkäufen die Entscheider das Recht haben, nach direktem Kontakt mit der Ware den Verkauf rückgängig zu machen), hat der Unmittelbarkeitsbegriff der kandidatengebundenen Listenwahl nichts zu tun - selbst wenn einige Bundesverfassungsrichter, wie sich erwiesen hat, dies zu meinen scheinen.
Ich verlasse kurz den Lesefluss um zu zeigen welche juristische Spitzfindigkeit bei den obersten Richtern und allen Richtern hier zum tragen kommt.
Der Trick der hier angewendet wird, ist in zwei Begrifflichkeiten zu finden.
1. Natürliche Person
2. Juristische Person
>Dies ergibt sich aus einer Formulierung aus dem Grundgesetz , wo man dies herauslesen zu glauben scheint:
(Art. 19 (3) GG) dort heißt es:
„Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“
Das ist ein „schmerzhafter fauler Zahn“, zu dem noch ein zweiter hinzukommt (Teil 37 wird in zeigen), den es radikal, inklusive Wurzel, zu ziehen gilt.
Der Begriff „unmittelbar“ im Wahlrecht bedeutet nichts anderes, als dass eine Person direkt gewählt werden muss. Hier sieht die oberste Justiz auch die juristische Person als Person an. Also ein Kunstprodukt, „die Partei“ als juristische Person, wird dabei einer „natürlichen Person“ gleichgestellt. Das Kunstprodukt „Partei“ besteht aus manchmal mehreren Tausend natürlichen Personen. Aus einem Verhältnis 1:1
natürliche Person:juristische Person wird bei genauer Betrachtung ein Verhältnis 1:1000?
eine Natürliche Person : gegen eintausend(?) natürliche Personen.
Dieses Verhältnis ist wohl einsichtig nicht gleich. „Checks and balances“ ist sichtbar nicht vorhanden.
Ist dies aber nach dem Grundgesetz zulässig, vor allem bei der Wahl? In keinster Weise? Warum?
In Artikel 20 (2) GG spricht die Staatsgewalt in ihrem Ausgangspunkt dem Volke zu. Wer ist das Volk? Es sind natürlich alle Deutschen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Und keinem Deutschen darf die Staatsangehörigkeit entzogen werden (Art. 16 (1) GG). Also alles natürliche Personen. Und wen wählen diese? Sie wählen die Abgeordneten des deutschen Bundestages. Und wer kann Abgeordneter des deutschen Bundestages werden? Deutsche, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, also wieder natürliche Personen. Natürliche Personen, wählen natürliche Personen und keine Parteien „juristische Personen. Denn sie sind
„…dem Wesen nach nicht auf juristische Personen (Art.19 (2) GG) anwendbar. Somit ist die „Unmittelbarkeit“ eindeutig und widerspruchsfrei verletzt. Denn die Wahl über Parteien ( juristische Person) zu den Abgeordneten (natürlichen Personen) ist eine „mittelbare“. Parteien sind von der Wahl grundsätzlich ausgeschlossen. Dass allein macht jede Wahl inkl. Jeder Liste nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ungültig. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, der jede Wahl ungültig macht, aber dazu mehr in Teil 37 in #freie-gesellschaft.
Nun kehren wir wieder zurück, mehr könnt ihr in #mein-fall nachlesen.
Die Dunkelheit um das Leben und Denken der Kandidaten ist der schlimmste Feind einer demokratisch beabsichtigten Personenauswahl. Sie wird zusätzlich befördert durch die in Deutschland übliche Zweitstimmenregelung. Aufgrund dieser Regelung haben die Wähler keine Möglichkeit, zwischen bestimmten Personen auszuwählen. Nur Parteien als anonyme Machtblöcke stehen zur Wahl. Zwischen ihren Programmen zu wählen, erinnert an das Tun eines Kindes, das sich aus verschiedenfarbigen Ostereiern eines heraussucht.
Nicht nur die Methode, politische Parteien (neben Personen) auf den Listen auswählen zu lassen, dokumentiert den anonymen Charakter der kandidatengebundenen Listenwahl. Auch jene Wahlkandidaten, die als Listenerste im Scheinwerferlicht der Medien stehen und somit einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen, bleiben für die weitaus meisten Wähler anonym. Ihr Gesicht und ihre Äußerungen werden für den öffentlichen Auftritt zurechtgeschminkt. Von ihrem wahren Leben, ihren persönlichen Einstellungen, ihren Vorlieben und Abneigungen erfährt das Wahlvolk nichts. Sie werden bewusst vor den Augen der Wählerschaft verborgen. Die Anonymität der Wahlkandidaten und damit ihre Ferne vom Volk ist ein glatter Schlag ins Gesicht jener Wähler, die eine Wahl im Sinne einer echten Auswahl treffen wollen.
Listenwahlen verdummen den „Souverän“ zum Kreuzchenmaler auf einem vorgefertigten Formular. Sie gestehen den Wählern „Entscheidungsrechte von unüberbietbarer Primitivität zu. Sie fordern ihnen ein Wahlverhalten ab, das dem Lallen eines Kindes gleicht“ (Gustav Horn, 1980). Jeder Gemüseeinkauf auf dem Wochenmarkt verlangt vom Bürger mehr Verstand und Urteilskraft, als der Gang zur Wahlurne, mit einer Liste in der Hand. So spielt es für diese Art des Wählens auch keine Rolle, ob das Wahlalter auf 18, 16 oder gar 14 Jahre festgesetzt ist.
Wo das Auszuwählende unbekannt ist, degeneriert das Wählen zum bloßen Tippvorgang. Es besteht die Gefahr einer Negativauswahl. Der Beweis dafür, dass eine solche tatsächlich stattfindet, ist die nicht abreißende Kette politischer Skandale und das offensichtliche Versagen der Gewählten bei Entscheidungen von existentieller Bedeutung. Aufgrund der eigentümlichen Struktur der kandidatengebundenen Listenwahl kann nur zufällig Professionalität an die Spitze der Wählerschaft gelangen. Schon mancher hat das Qualitäts- und Kompetenzdefizit derzeitiger Politik beklagt. Dass aber das Wahlsystem als solches das Defizit verantworten könnte, erscheint Vielen befremdlich und unglaubhaft.
Kandidatengebundene Listenwahlen erfordern kostspielige Show-Veranstaltungen, Wahlkämpfe genannt. Die Methoden der Wahlkämpfer, die sich hier profilieren, würden jeden Privatmann aufgrund der im außerstaatlichen Leben üblichen Rechtsnormen sofort diskreditieren, unter Umständen sogar straffällig machen. Der Wahlkampf hat mit dem fairen Wettbewerb herausragender Persönlichkeiten so gut wie nichts, mit der geölten Professionalität gewerblicher Markteroberer alles gemeinsam. Was man hier als demokratischen Wettstreit ausgibt, ist nichts als „ein Gruppenkampf um bürokratische Befehlspositionen“ (Erwin und Ute Scheuch, 1992).
Die kandidatengebundene Listenwahl ist keine Wahl im eigentlichen Sinne. Sie verunmöglicht das Natürliche an der Wahl, nämlich das auf einer umsichtigen Prüfung und Bewertung vorzunehmende Auswählen. Die den Bürgern einzig verbleibende Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, gerät zur bloßen Akklamation. So konnte es kommen, dass aus der Demokratie das wurde, was sie heute ist: eine Fassade.
Ein noch so ausgeklügeltes Kandidatenwahlsystem funktioniert nur nach der Mehrheitsregel. Demokratie als Mehrheitsherrschaft galt im Altertum als Schimpfwort für die seinerzeit schlechteste Regierungsform. Aristoteles nennt eine Regierung auf der Basis von Mehrheiten „eine auf eine große Gruppe von Menschen ausgedehnte Tyrannis“. Auch die amerikanischen Gründerväter hielten Demokratie für eine Art Tyrannei, „weil sie vor der fundamentalen Labilität eines Regierungssystems zurückschreckten, in dem der Geist des Öffentlichen untergegangen war in einem Meer einmütiger ´Leidenschaften’, volkserhebender Gefühle und patriotischer Redensarten“ (Hannah Arendt, 1994). Der Franzose Alexis de Tocqueville spricht von einer „Diktatur der Mehrheit“ (Nachdruck 1956). Für den Engländer John Stuart Mill ist die Mehrheitsherrschaft („Tyranny of the Majority“; Nachdruck 2009) die potentiell repressivste Staatsform.
Um bei der heute üblichen Wahl Mehrheiten zu gewinnen, müssen alle Register des staatlichen Sponsorings gezogen werden. Die politische Klasse muss zusehen, dass sie möglichst viele der Staatsbürger alimentiert, damit sie ihre Existenz mit dem Argument legitimieren kann, dass sie das „Glück für alle“ vor Augen habe. Friedrich August von Hayek spricht hier passend von „Schacherdemokratie“ (1981) - mit der Begründung, dass die Stimmen mit Begünstigungen erschachert werden.
Mehrheitswahlsysteme weisen über kurz oder lang der Demos-kopie eine überragende Rolle im gesellschaftspolitischen Raum zu. Eine der ersten, die das erkannte, und die mit dieser Erkenntnis richtig Geld machen konnte, war die legendäre „Pythia vom Bodensee“ Elisabeth Nölle-Neumann.
Die durch die kandidatengebundene Listenwahl und den Parteiismus hervorgebrachte Berufspolitik hat zu einer regelrechten „Wählerbestechungsdemokratie“ geführt (Christoph Braunschweig, 2012; Hans Herbert von Arnim, 2017). Auf der einen Seite haben sich die Gewählten auf ihren Posten quasi gewerblich eingerichtet und genießen deren Pfründe. Sie dürfen sie nicht in Gefahr bringen und müssen sie durch ständig neue Gaben – „Wahlgeschenke“ genannt - sichern. Auf der anderen Seite steht die infantile Haltung der Bürger mit ihren überzogenen Erwartungen an die Politik. Dieses Grundübel vieler heutiger Staatsgesellschaften nennt Christoph Braunschweig „die demokratische Krankheit“ (a. a. O.).
Der Ablauf der Wahlkämpfe ist der beste Beweis dafür, „dass Stimmen in der [parlamentarischen; d. V.] Demokratie nicht durch vernünftiges Reden, sondern durch die Verbreitung von Unsinn gewonnen werden“ (Hans-Hermann Hoppe, 2012). Außerdem: Ein durch die Mehrheitsregel dominiertes Wahlsystem macht politische Entscheidungen möglich, die im Grunde von keiner Mehrheit akzeptiert würden. Darauf weist Freidrich August von Hayek im dritten Band seines Werkes „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ (1981) hin. Er schreibt dort, dass „die Notwendigkeit, organisierte Mehrheiten zu bilden, um ein Programm besonderer Handlungen zugunsten spezieller Gruppen zu unterstützen, eine Quelle der Willkür und Parteilichkeit ins Spiel (bringt) und Ergebnisse (zeitigt), die mit den moralischen Prinzipien der Mehrheit unvereinbar (sind)“.
Machtstrukturell hat sich in der heutigen Gesellschaft im Vergleich zu früher kaum etwas geändert. Anstelle des monarchischen ist ein polykratischer Obrigkeitsstaat getreten. Das dokumentiert sich selbst im Bild: im Plenarsaal des deutschen Bundestags prangt ein monumentaler Adler, das Wappentier früherer Obrigkeiten. Das Raubtier ist direkt hinter dem Rednerpult angebracht - in Megagröße und so prachtvoll ausgeleuchtet, dass er jedem, der den gewichtigen Gedankengängen der „Volksvertreter“ zu folgen sucht, deren Herrschaftsanspruch überdeutlich vor Augen führt.
Die kandidatengebundene Listenwahl entspricht weder den Naturrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit, noch dem Prinzip der Unmittelbarkeit. Stellen wir der Demokratie die Despotie als negative Politvariante gegenüber, werden wir sagen dürfen: Mit der kandidatengebundenen Listenwahl zieht ein despotisches Moment in das politische Leben ein. Eine „Demokratie“ kann aufgrund einer solchen Organisationsregel „den denkbar vollkommensten Despotismus aufrichten“, so Friedrich August von Hayek. Dass ein politischer Despotismus auch aus Wahlen erwachsen kann, diese Erkenntnis datiert schon aus der Zeit des ehrwürdigen Jefferson.
Die Auffassung Abraham Lincolns, Demokratie sei die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk, trifft auf die parlamentarische Demokratie nicht zu. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder, in denen nach der kandidatengebundenen Listenwahl gewählt wird.
Schon aus ökonomischer Sicht müsste in vielen heutigen Gesellschaften das Prädikat „demokratisch“ im Sinne von „Volksherrschaft“ in Frage gestellt werden. Es übersteigt jede Vorstellungskraft, dass ein Volk ohne Murren akzeptiert, dass - alle Staatseinnahmen zusammengenommen - die Hälfte (und oft mehr) der individuellen Eigentumszuwächse der bestimmenden Macht irgendwelcher Funktionärsgangs obliegt, ein Großteil davon direkt in deren Taschen verschwindet.
Den Repräsentanten in allen Ländern, in denen kandidatengebundene Listenwahlen stattfinden, fehlt die eigentliche, durch eine echte Wahl erteilte Legitimation. Das Legitimationsproblem im Hinblick auf das Parlament verschärft sich noch dadurch, dass dieses über den Parteiismus mit der Exekutive eng verbunden ist. Auch die Trennung der Judikative von den anderen politischen „Gewalten“ ist wegen des alles überwuchernden Parteiismus nicht vorhanden (s. der Verf., auch in #mein-fall)
Die hier vorgetragenen Untersuchungsergebnisse werden bestätigt durch Hans Herbert von Arnim in seinem Werk „Die Hebel der Macht“ (2017): „Ist bereits die demokratische Legitimation des Parlaments - mangels wirklicher Volkswahl der Abgeordneten - erschüttert, so steht die Legitimation der vom Parlament gewählten Amtsträger, die in Wahrheit vorher von den Parteien bestimmt werden, erst recht bloß auf dem Papier. Das Zaubermittel, dennoch Legitimation vorzugeben, ist die sogenannte ununerbrochene Legitimationskette, die vom Volke bis zu den Amtsträgern reichen soll. Angesichts der völligen Einflusslosigkeit des Volkes und der alleinigen Bestimmung durch die Parteien erweist sie sich aber vollends als wirklichkeitsfremde Fiktion.“
Eine auf dem Mehrheitsprinzip aufgebaute kandidatengebundene Listenwahl „macht es praktisch unmöglich, dass gute oder harmlose Menschen jemals an die Spitze aufsteigen können“ (Hans-Hermann Hoppe, 2012). Einer der Gründe ist, dass bei der kandidatengebundenen Listenwahl die Kandidaten trotz ihrer Bekanntmachung bei den „Wahlkämpfen“ weitestgehend anonym bleiben.
Die kandidatengebundene Listenwahl kann daher eine Wahl im Sinne von „Auswahl des Besten“ gar nicht sein. Sie fördert die Tendenz zum Versteckspiel und bringt infolgedessen Pseudoprofessionalität und Pseudokompetenz an die Spitze. Sie ruft selbst in einem entwickelten Medienzeitalter wie dem unsrigen eine politische Geheimregie ins Leben.
Das heute übliche Machtverteilungsritual lässt daran zweifeln, dass Leute in die Parlamente gelangen, die auf eine fachgerechte Kontrolle des exekutiven Monopolbetriebs vorbereitet sind. Christoph Braunschweig diagnostiziert eine „schiere Borniertheit der politischen Klasse“, einen „Typus ‚Berufspolitiker’, dessen bildungsmäßiger…Hintergrund eine Karriere in der privaten Wirtschaft ausschließt“ (2013; s. auch Hans Herbert von Arnim, 2017, der eine systemisch bedingte „Verzwergung“ der Abgeordneten diagnostiziert).
In einer Demokratie kommt es darauf an, die Souveränität der „Basis“, also die Souveränität der Machterdulder zu bewahren. Die wird in der Staatsgesellschaft durch das dort übliche Machterteilungsritual eher behindert als befördert. Wollte man dem Demokratieideal wirklich Freiraum verschaffen, einem Ideal in der Art, wie es uns „die Demokratie des Marktes“ (s. o.) in aller Stille und Unaufdringlichkeit Tag für Tag vor Augen führt - der aus kandidatengebundenen Listenwahlen hervorgehende Parlamentarismus wäre am Ende und ist auch am Ende .„Schach Matt“!
Eine wahrhaft freie Gesellschaft braucht kein Parlament. Denn erstens gibt es in ihr keinen König, als machtversessenen „Souverän“, den es zu maßregeln gälte. (In einer Demokratie, die diesen Namen wirklich verdient, ist nur das jeweilige Individuum souverän, und das maßregeln der Wettbewerb, die Gerichte und die Antimonopole.) Zweitens gibt es dort keine zentrale Gesetzgebung, die „von oben her“ das Recht bestimmt. Denn die mündigen Bürger einer freien Gesellschaft geben sich ihre Rechte in ihren Verträgen gegenseitig selbst (wie #freie-gesellschaft aufzeigt).
Was die Befürchtung angeht, der Demokratie ermangele es an etwas, wenn es keine Parlamente gibt, wird mir an dieser Stelle der Serie #freie-gesellschaft wohl niemand mehr unterstellen, meine Ablehnung der Parlamente habe etwas mit Demokratiefeindlichkeit zu tun. In diesem Punkt bin ich einig mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, der seinerzeit im SPIEGEL (Nr. 43/1992) die Auffassung vertrat, dass „Parlamentarismus nicht mit Demokratie identisch“ sei und dass „Parlamentarische Formen noch keine demokratische Substanz (gewährleisteten)“.
„Heute gibt es keine guten Gründe mehr, die… parlamentarische Demokratie beizubehalten. Sie funktioniert nicht mehr. Es ist Zeit für ein neues politisches Ideal“. So äußern sich die beiden Holländer Frank Karsten und Karel Beckman (2012).
Und Teil 37 #freie-gesellschaft folgt und räumt - mit dem Parteiismus und deren Mehrheitstyrannei, dem Raubrittertum - endgültig auf.
Euer Zeitgedanken
Jetzt gehst Du ans Eingemachte...
jep. in #mein-fall fange ich mit der Klage aus 1999-2002 an und den dazugehörigen Gründen und berichte auch über den Verlauf und dem Verhalten der Verfassungsrichter (Namen und Aktenzeichen sind auch dabei). Das war die Testphase um Verhalten von Verfassungsrichter zu erforschen.