Der rote Stern von Moskau

in Deutsch Unplugged6 months ago (edited)

Um nicht eine rührend schöne Geschichte über den Hütehund Mäx zu erzählen, der kürzlich viel zu kurz unseren Tümpelhund Merlin besuchte, folgt eine Erzählung aus dem feuchten Leben, die mir fast würdig erscheint, Fortsetzung zu finden.

Minijob

Einer der Klienten, die ich im Rahmen eines Minijobs betreue, ist 98 Jahre alt und lebt allein. Uns freut jedes Treffen seit September 2021. Wir mögen uns. Ich betreue ihn auf Kosten der Krankenkasse und, sag' s ja nicht weiter, auch privat. Er stand einst mit der SS vor Moskau. Nur kurz, denn da waren sie schon auf dem Heimweg und mussten ihre Beine in die Hand nehmen.

Die Story platzte auf einem Spaziergang am Main heraus. Er war Soldat, Mechaniker, Eishockeyspieler, Jachtbesitzer, Motoradfahrer, schöner Mann und hat selbst auf zwei Krücken noch eine Haltung, die Achtung gebietet. Sein Clark Gable-Bärtchen ist so grau, dass man es für eine Blässe der Oberlippe halten könnte, aber es ist noch da, so wie das volle weiße Haupthaar. Wir spazierten also zügig, mussten hintereinandergehen, da schlug er plötzlich einen Haken nach links. Meine Alarmglocken schrillten. Er lief mit beinahe rudernden Krücken die Böschung hinunter, abseits des Pfades, der oben neben dem Klein-Auheimer Fußballplatz entlang in Richtung Hainstadt führt.

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Im Winter auf dem gleichen Weg zurück. Rechts der Ort des Geschehens.

Er schlug sich in die Wiese, hinunter zum asphaltierten Uferweg. „Das kannst du nicht machen“, schnappte ich. Aber da war er schon mitten drin in hohem Gras. Im Umdrehen, spitzbübisch grinsend meinte er: „Ha, Martin, hast du etwa Angst? Ich hab aus der Ferne den roten Stern auf dem Kreml gesehen! Da wird mich das bisschen Wiese sicher nicht umbringen.“ Der Alte steckt voller Überraschungen. Ab da war klar: Ich muss immer auf der Hut sein. Im Job trage ich ja auch Verantwortung. Wie soll das gehen, mit so einem Springteufel auf zwei Krücken?

Pflegearbeit

Außer dem Spazierengehen, chauffiere ich seinen Benz zum Einkaufen. Aldi. Edeka, Rewe, Rossmann, Bauhaus, Sanitätshaus, Apotheke, Tanken, Waschanlage, was auch immer anliegt. Ich hole den Einkaufswagen, gehe zur Hand und assistiere bei den unterschiedlichsten, persönlichen Projekten. Beinahe regelmäßig fege ich den Abwurf einer leichtsinnigen Sechziger Jahre Gartenplanung von der Straße und helfe, wo Hilfe geboten ist, außer im pflegerisch-medizinischen Bereich. Dafür kommt die Fackel. Hochgeschätztes Superweib, Altenpflegerin mit Diplom und roten Haaren. So fusioniere ich seit zwei Jahren vom Freelancer zum Hausmeister, Chauffeur, Gärtner, Putzmann und nicht zuletzt guten Freund. Vielleicht sogar letzter Freund, aber das tut überhaupt nichts zur Sache.

„Weißt du was, Martin?“ „Nein. Du weißt doch, dass ich nichts weiß.“ – Einer unserer Running Gags. „Erstmal bringst du den Rubbish aus der Küche in die Tonne. Dann fegst du bitte Eingang, Driveway und kein Blatt in die Tonne. Während dessen, lass dir ruhig Zeit, ich gehe zunächst auf den Dschan.“ Das ist das Klo. „Dann mache ich mich fertig und dann, dann fahren wir zum Markt. Einkoofe!“ „Oh toll, da kann ich wieder im Sitzen arbeiten! Das kommt meinen Neigungen entgegen.“ Wir haben meistens Spaß. Es kommt vor, dass er Mal nicht gut drauf ist, wenn ich ankomme. Aber das ist normal. Nicht nur bei alten Menschen. Doch bis zum „Tschau Martin“, was „machs gut“ bedeutet, geht es wieder besser. Du musst nur ordentlich arbeiten, dann hebt sich die Laune eines jeden Herrn.

Chauffieren

Autofahren mit ihm ist nicht ohne. Ich rede von der hohen Schule des Chauffierens. In mir stecken zwar acht Jahre Taxi, aber das war offenbar nicht genug. Wer als junger Mann Offiziere chauffieren musste, kann sicher auch gut Auto fahren. Man muss z. B. wissen: Köpfe von Kindern, Besoffenen und alten Menschen halten Lastwechseln nicht stand. Die sind also tunlichst zu vermeiden. Nicht schnell anfahren, Abstand halten und Bremsen sein lassen, wo immer es die Verkehrslage zulässt. Einmal bin ich Nachts von Mannheim Mitte bis Abfahrt Hanau ohne ein einziges Bremsen ausgekommen. Aber das glaubt mir keiner und ich war alleine mit meinem Tempomat auf 110 km/h. Ausrollen ist da Trumpf und mit Automatikgetriebe geht das nochmal ganz anders. Die komplette Schnarchparade eben. Was jeden Hintermann in den jaulenden Wahnsinn treibt. Dabei soll möglichst noch links gefahren werden. Dort gibt es keine Lastwagenspur, Kanaldeckel, Senken, Schlaglöcher, all das Gift für die Reputation eines jeden Fahrers ist links weniger.

Markt-Promis

Unten, direkt vor der Überführung muss ich ganz langsam fahren. Weil sich da eine üble Querschwelle verbirgt. Oben auf der Kuppe ist noch eine. So entstehen fröhlich, spitze Wortklaubereien über Erschütterungen, Entschuldigungen, Urinbeutel und die hohe Kunst des Fahrens. Es wird gelobt, getadelt und gescherzt. Er will mich triggern und wir spielen miteinander. Die Strecke gerät so zur humoresken Kurzweil bis wir, natürlich perfekt 1 Meter zum Bordstein, vor der Schnauze des roten LKW parken. Direkt am Verkaufsstand des Marktmetzgers aus der Rhön. Die haben einen Geflügelhof, verkaufen aber auch Fleisch und Wurst, gefertigt aus anderen Lebewesen. Einerlei, dort bedient eine süße Syrerin. Sie und ihr Chef freuen sich immer mit und über uns. Da gibt es erstmal ein spaßiges Wort zur Begrüßung, über alle Köpfe hinweg. Wir sind wohl Marktstandpromis und genießen es.

Davon ist vielleicht irgendwann Mal mehr zu lesen. Der Witz ist ja, dass überall irgendwas Alltägliches passiert, was ohne weiteres erzählenswert erscheint.

Die nächste Geschichte:

Teil 2 Mehr als sieben Leben

Weil dies die Urlegung einer Erzählung ist, die der Autor in #deutsch auf dem Steem urlegt, gebe ich seit geraumer Zeit das Schlüsselwort #steemexclusive an. Das soll ich tun. Nicht weil man das aus Gründen des Copyright tun muss, oder weil sich Google dafür interessiert, nein. Ich tue es weil … tue es weil … pffft! – ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung, warum. Bekommt man damit mehr Votes? Das kann man nie wissen.
Sort:  
 6 months ago 

Er kann sich glücklich schätzen, einen letzten Freund zu haben, der es versteht, diesen Lebensabschnitt erträglicher zu machen und Spaß zu haben.

Er hat in seinem Leben viel erreicht, ein Mensch, den man zweifellos bewundern muss. Daher denke ich, dass sein Pfleger, Chauffeur, Klempner und all die anderen Fähigkeiten, die er für ihn entwickelt hat, am Ende des Weges eine schöne Belohnung sind.

 6 months ago 

Danke fürs Lesen und Kommentieren, jesusjacr.
„Martin, du bist Gold wert.“, hat er vor Kurzem zu mir gesagt. Ja, meine Arbeit ist für ihn wirklich eine Verbesserung. Aber auch für mich ist sie das. Ich genieße Anerkennung und das Bewusstsein, gebraucht zu werden. Den Job empfinde ich daher nicht als Arbeit. Jede Ausfahrt zu Klienten ist vielmehr eine willkommene Abwechslung und da mir alle Besuchten diese Wertschätzung entgegen bringen habe ich das Gefühl, auch zu einer Berufung gefunden zu haben.

 6 months ago 

Ich denke, das ist es, was seine Arbeit so wunderbar macht, die Tatsache, dass er sie genießt, als wäre es kein Job, dass er sich auf die Kunden einlässt und ihnen in seinem Herzen Raum gibt.

Jemand hat einmal gesagt, wenn man es schafft, seine Arbeit zu lieben, wird man aufhören zu arbeiten, auch wenn man weiter bezahlt wird.

Ich glaube, Sie haben diesen Punkt erreicht, der Ihre Arbeit zu einem Buch Ihres Lebens macht, und das ist wundervoll, vor allem, weil Ihre Arbeit beinhaltet, dass Sie sich um andere Menschen kümmern und ihnen Zuneigung schenken.

Schöne Schreibweise hast du. Resteemt. Hat man hier Immer noch einen introduce Post eigentlich zu machen auf Steemit? Alles Liebe dir froggy.

 6 months ago 

Hat man hier Immer noch einen introduce Post eigentlich zu machen auf Steemit?

Man "musste" hier nie etwas machen. Eine Vorstellung ("Introduce Post") gehört jedoch zum guten Stil, wenn man in der Community Fuß fassen möchte. Tatsächlich auch insbesondere hier in der Community "Deutsch Unplugged" - wir wissen halt gern, mit wem wir es zu tun haben. Also: Wer bist du? Offensichtlich kein ganz neuer "Neuling"... ;-)

Haha, richtig, müssen muss man garnichts. Ich mach noch nen introduce Post, dann erinnert sich vielleicht doch noch jemand aus 2018 an mich... Lmao... Bin nur grad busy und möchte nen ordentlichen Post machen. Auf bald und danke für die schnelle Antwort 🤗🙏🏼

 6 months ago (edited)

Danke fürs Lesen und deinen Kommentar.
Das mit dem Vorstellungspost musst du nicht tun, kannst es aber tun. Ich habe es vor 7 Jahren getan, oder nicht. Ich weiß es nicht mehr. Schreibe einfach immer schön und kommentiere fröhlich, dann lernen wir dich schon kennen.

 6 months ago 

dass überall irgendwas Alltägliches passiert, was ohne weiteres erzählenswert erscheint

Und du erzählst das Alltägliche so schön... 🥰

Ich muss gerade daran denken, wie wir vor ein paar Wochen zum 90. Geburtstag eingeladen waren. Die fitte Jubilarin erzählte Geschichten, die ich aufsog, die ich zu gerne umgehend verschriftlicht hätte. Geschichten von Kindern, die nie ihre Väter kennenlernten, Geschichten von Müttern, die ihre Kinder verloren, Geschichten von Menschen, die sich versteckten, von roten Sternen, die Moskau vergaßen. Geschichten eben. Geschichten von Zeugen, von denen es kaum mehr welche gibt. Ich liebe es, diese Geschichten zu hören.

Wieso aber ist die Geschichte von Mäx, dem Hütehund, rührend? Er geht seinen Weg. Als Hütehund. Und ich glaube, darüber schreibe ich gerade eine Geschichte... 😊

 6 months ago 

Danke fürs Lesen und Kommentieren, chriddi.
Bei dem Klienten ist es so, dass er so gut wie nichts freiwillig erzählt. Er lasst alles, was ich weiß, ausschließlich in kleinen Dosen und rein zufällig raus, so dass man auch überhaupt nur ganz unscharf eine klare Linie von seinem Leben zu sehen bekommt.

Wieso aber ist die Geschichte von Mäx, dem Hütehund, rührend?

Ich fand es rührend, weil die Jungs sich begrüßt und über die Zeit des Besuches so rührend lieb verhalten haben. Als würden sie sich täglich zehnmal sehen. Außerdem könnte ich die Geschichte, wenn ich wollte, sowieso derart rührend verfassen, dass dir beim Lesen die Tränen kommen. Bitte zwinge mich nicht mit spitzen Fragen zu so einem arbeitsreichen Schritt. Nur, weil du herumstochern musst. Ich habe halt dick aufgetragen. Bist du nun zufrieden?

 6 months ago 

Außerdem könnte ich die Geschichte, wenn ich wollte, sowieso derart rührend verfassen, dass dir beim Lesen die Tränen kommen.

Au ja... 😁

 6 months ago 

hehe so störrisch wie du Autofährst mein lieber Frosch, so kannst du in Andalusien auch chauffieren aber bitte ohne dich zu echaufieren wenn die anderen deinen tempomatstil nicht mögen.
Ich renne hier mit tempomat 90 rum und habe viel Spaß dabei weil auf der Landstraße und teils auch in den Städten auf baulich getrennten Fahrstreifen ist hier 80 (die LKW´s überholen schon mal mit 100).
Der Kollege den du da pflegst hat sich verdammt gut gehalten, Respekt !

 6 months ago (edited)

Ich war immer einer von den Schnellen. Doch mit zunehmendem Alter fange ich tatsächlich an, die Langsamkeit zu genießen. Das hat aber auch durchaus was mit dem subversiven Teil meines Lebensmottos zu tun. Je langsamer ich fahre, desto weniger verdienen die erpresserischen Mineralölkonzerne an mir. Mit einem Tank komme ich locker auf 1000 Kilometer Strecke. Trotz Stadtverkehr!

 6 months ago 

hehe guckst du hier von gestern mit dem Rennwagen ;)

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 6 months ago 

100 Liter Tankvolumen?

 6 months ago (edited)

naaaaaa, 60 Liter inkl. 5 Reserve, Diesel versteht sich. Mit nem doppelt so großen Tank von irgend einem Daimler hätte ich vor der Softwareumstellung nach dem Debakel um die Schummelsoftware mit dem locker die Strecke von Andalusien nach D geschafft (2.810 km einfach) ohne zu tanken, weil vorher hat der nämlich nur 4 Liter gebraucht, jetzt liegt er irgendwo zwischen 5,2 und 5,5 Liter /100km.

 6 months ago 

Das scheint für Euch beide gut zu passen. Respekt und Glückwunsch!

 6 months ago 

Danke fürs Lesen und für deinen Kommentar. Ja, es passt aber nicht nur bei diesem Klienten. Ich habe 7 davon und irgendwie alle ins Herz geschlossen. Selbst meinen Mäusekönig, ein Alkoholiker unter gerichtlich bestellter Vormundschaft. Seit zwei Jahren bekomme ich in aller Deutlichkeit mit, was diese sogenannten Hilfe-Unternehmen alles treiben, wenn sie einen Klienten mit Pflegestufe ergattern. Ich habe in dem Bereich tatsächlich noch kein einziges, seriöses Unternehmen getroffen und was diese Unternehmen, und auch die amtlich bestellten „Betreuer“ so treiben, ja sogar was eigene Familienmitglieder ihren hochbetagten Vorfahren zumuten, ist schlicht gesagt kriminell. Im Pflegebereich wird mit abhängigen Menschen Schindluder getrieben. Selbst der ib (internationaler Bund), ein Unternehmen, dass nur diplomierte Sozialpädagogen auf die Straße lässt, bekleckert sich in meinem Sichtkreis nicht gerade mit Ruhm.

Generell gilt: Greise Angehörige leben zu lange. Was überall läuft: Klienten werden zu Unterschriften von Arbeitsnachweisen gedrängt, für die nicht eine Stunde Arbeit geleistet wurde. Sie werden mit ungerechtfertigten Rechnungen überzogen und einer Frau, die im März hundert Jahre alt wird, hat der Enkel jetzt im Herbst die Heizung abgestellt. Er hat vor Jahren das Haus der Greisin gekauft in der Annahme, sie würde wohl bald ableben. Es scheint, dass er nun die Nase voll hat. Dieser Mann ist Studienrat! Wir lassen solche Menschen auf unsere Kinder los!

Es gibt keine Instanz im gesamten Gesundheitssystem, wo man so etwas anzeigen könnte. Da ist niemand, der diesen Gewissenlosen Verbrechern das Handwerk legen würde. Um alte Menschen kümmert sich tatsächlich niemand mehr ernsthaft. Das sind alles nur Alibiveranstaltungen, die das Gewissen der Gesellschaft beruhigen sollen. Die Alten werden tatsächlich unterdrückt und von Verbrechern schamlos ausgenommen.

 6 months ago 

Ansatzweise kenne ich solche Geschichten. Ein Freund, der aus psychischen Gründen unter Betreuung steht, der Betreuer seine Mündel nötigt, in seine Häuser einzuziehen. Dann ist er Vermieter und Betreuer in Personalunion, hat alles in der Hand, sogar einen Wohnungsschlüssel (als Vermieter dürfte er nicht, als Betreuer schon...) und so weiter. Schiebe ich, ehrlich gesagt, meist ganz weit weg. Was könnte man tun? Da ist nicht nur keine Lobby, sondern wohl auch kein zweckmäßiges Rechtsmittel...? Jedenfalls prima, daß Du es anders machst! Ein paar alten Herrschaften machst Du den Tag ein wenig heller. Cool. Weiter so! Und: danke!

 6 months ago (edited)

Hallo Afrog

Einmal bin ich Nachts von Mannheim Mitte bis Abfahrt Hanau ohne ein einziges Bremsen ausgekommen. Aber das glaubt mir keiner und ich war alleine mit meinem Tempomat auf 110 km/h

Ganz mein Geschmack , vorausschauendes Fahren ist angesagt 👍
Ich kann’s mir gut vorstellen
Edit: und glaube es auch!!!
VgA

 6 months ago 

Na bitte. Voll im Trend.

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 6 months ago 

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