Akzeptanz des Menschlichen

in Deutsch Unplugged3 years ago (edited)

Es ist schwer, die Götter zu wechseln.
F.M. Dostojewski

Mit obigem Zitat aus "Die bösen Geister", in anderer Übersetzung auch "Die Dämonen", ist eigentlich alles gesagt. Aber dann wäre der Post schon zu Ende und dann könnte man sich ihn auch sparen, was ja offensichtlich nicht meine Absicht ist.

Halten wir es einfacher und reden nicht von einstürzenden weltanschaulichen, ideologischen oder religiösen Überzeugungen - was mehr oder weniger dasselbe ist, wobei alte Religionen deutlich weniger vulgär oder gar nicht vulgär zu sein pflegen. Solche Götzen zu wechseln oder ganz aus dem Pantheon zu verbannen, schaffen nur die wenigsten.

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Wie bitter es ist, wenn man gewahr wird, dass eine verehrte, geachtete oder noch schlimmer: im Stillen angebetete Person! - völligen Unsinn erzählt, moralisch entgleist, sich als fehlbar zu erkennen gibt, namentlich unfreiwillig.

Das erste pubertäre oder spätpubertäre Entsetzen darüber, wenn der geliebte und geschätzte Popstar sich als strohdumm erweist. Und das, obwohl er an der Gitarre sich als gottgleich darbietet. Der Schmerz darüber, wenn der Revolutionsführer, der für hehre Ideale und Gerechtigkeit angetreten ist, nur skrupelloser Massenmörder und Psychopath war, und das, obwohl er doch so gute und kluge Texte abgeliefert hat. Oder nur das Kopfschütteln im Hinblick auf einen entsetzlich doofen Post eines geschätzten Bloggers. Oder wenn sich der vermeintliche Freund als widerlicher Denunziant zu erkennen gibt.

Fürchterlich. Erst schaut man weg, versucht zu ignorieren, dann leugnet man, dann entschuldigt man. Naja, und dann ...

Jeder lebt am liebsten in seiner eigenen Blase. Alle. Kognitive Dissonanzen sind gerade bei denkenden und suchenden Zeitgenossen leider noch viel häufiger zu finden als bei tumben Proleten. Wer gibt schon gerne zu, dass er sich getäuscht hat, dass er Jahre einem Unsinn hinterhergelaufen ist, dass die Zeiten sich geändert haben, kurzum: dass man sich zum Affen gemacht hat.

Tja, das macht keinen Spaß, ist aber leider unerlässlich. Leute, die ihr Leben lang ihre Anschauungen nicht ändern, finde ich persönlich beängstigend. Vielleicht ist es sogar Dummheit, aber da bin ich vorsichtig, denn Dummheit ist eine schwierig zu bestimmende Kategorie, gerade wenn es um so genannte Intellektuelle geht.

Bei Popstars, Pianisten, Tänzerinnen, Malern, Schauspielern oder Hochstaplern wie Gerd Postel ist es relativ einfach: Man nimmt einfach gar nichts zur Kenntnis, was diese Leute außerhalb ihres Talentgebiets von sich geben. Indem man keine Zeitung liest, kein Facebook hat und keine Twitternachrichten goutiert z.B. Man verhindert also das Landen negativer Reize auf den eigenen Bullshitrezeptoren.

So bleibt einem die Möglichkeit, schwärmerische Verehrung beizubehalten.

Die andere Möglichkeit, die sich beim einen oder anderen mit zunehmendem Alter entwickeln kann, ist das Verständnis für die menschliche Natur des Genies. Auch er muss aufs Klo, auch er hat Stress mit seiner Frau, auch er verliert die Nerven bei schreienden Kindern und auch er hat keine Ahnung von vielem, worüber er redet.

Und worüber er vielleicht gar nie reden wollte, aber gefragt wurde. Oder was er vielleicht gar nicht sagen wollte, aber wozu er sich im Suff oder aus Eitelkeit und Geltungsdrang im Rahmen von 24/7 Verfügbarkeit von sozialen Medien, deren Abwesenheit vor vielen Jahren vielleicht noch das Schlimmste verhindert hätten, hat hinreißen lassen.

Die Klassiker hatten weniger Möglichkeit, sich zu besudeln.

Langer Rede kurzer Sinn: am besten einfach weiterblättern. Und dann die Zeitung weglegen und die Klassiker wieder rausholen.

Sort:  
 3 years ago 

Schwere Kost. Den muss ich erst noch ein, zwei mal lesen bevor alles mögliche und unmögliche angekommen ist.

Hast du dir den Schwermut der Russen aus dem Urlaub mitgebracht? Waren ausgiebig Essen und Trinken oder Feiern und Philosophieren schon aus? 😜
VG @jensvoigt

 3 years ago 

Ich lese den ganzen Tag, geh hin und wieder mal schwimmen und besaufe mich abends. Urlaub in Brandenburg, zu Hause. Großartig.

Vielleicht solltest du auf Gras umsteigen und den Alkohol dadurch ersetzen, dann macht der Rest auch wieder Spaß?! ;)

 3 years ago 

Kiffen geht nicht, egal in welcher Form. Ich vertrage das nicht.

 3 years ago 

Das ist Einbildung.

 3 years ago 

Das habe ich schon 20x gehört. Genau so oft, wie ich es mit mit keinen, unangenehmen oder fast desaströsen Folgen probiert habe. Nee, nee, Leroy ist der Kleinbürger bzw. Handwerker unter den Drogenkonsumenten. Ich saufe.

 3 years ago 

Klar, du entscheidest, was dir gut tut. Nur noch zur Info:
Das mit dem nix Merken ist beim ersten Mal weitverbreitete Normalität. Desaströse Folgen kann der Genuss von Kif aber nur haben, wenn du besoffen kiffst. Bekifft saufen geht etwas länger gut. Im Übrigen gilt: Sogar beim Kaffeetrinken musst du auf Dosis und Prädisposition achten. Wenn du dir einen Joint von einem Hardcorekiffer drehen lässt, kann es für einen Anfänger durchaus auch zu viel werden. Es gibt aber weltweit keinen einzigen dokumentierten Fall von Weed-Toten. Ganz anders als bei Alkohol!

 3 years ago (edited)

Das stimmt.

Alkohol ist mit Abstand die gefährlichste, addiktiviste und unterschätzteste Droge. Man kann das gar nicht oft genug sagen. Besser hin und wieder kiffen als saufen!

Ich komme allerdings aus einem Zeitalter und Kultur und MIlieu, in dem Alkohol verniedlicht und ständig missbraucht wurde. Der kleine Leroy hat so einiges ausprobiert und ist am Schluss entweder ganz enthaltsam geblieben oder bei Alk geblieben. Alte Gewohnheit.

Ohje, das tut mir leid. :(

 3 years ago 

Geht mir genauso. Mir hat auch niemand geglaubt, dass ich nach dem ersten Versuch im zarten Alter von 30 Lenzen einen echten Horrortrip erlebt habe.

 3 years ago 

Das letzte Mal hatte ich einen Kreislaufzusammenbruch und war kurz davor, den Notarztwagen anrücken zu lassen. Das Zeug kommt nicht mehr in meine Nähe.

 3 years ago 

Die Klassiker hatten weniger Möglichkeit, sich zu besudeln.

Na ja, so Klatsch und Tratsch bei Hofe, per Herold oder Postkutsche weitergetragen, war auch nicht ohne und konnte Kreise ziehen, die sich bis in die Gegenwart gehalten haben. Aber das hatte Stil, das hatte Klasse - Klassiker eben...

Rief die bösen Geister nicht der Zauberlehrling?!
Ja, ja, sorry, der war plump. Ein Kaschierungsversuch: Dostojewskis Dämonen kenne ich nicht, aber Klassiker... ;-)

 3 years ago (edited)

Die großen Romane Dostojewskis sind ein Muss, auch für Germanisten. Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne), Der Idiot, Böse Geister (Die Dämonen), Der Grüne Junge, Die Brüder Karamazov. In der Reihenfolge übrigens. Dostojewskis Einfluss auf die deutsche Literatur danach war gewaltig (Argument für Germanisten). Was aber noch wichtiger ist: Es gibt nichts Fesselnderes. Die saugen Dich komplett auf und hinterlassen Dich als Tartar mit Zwiebeln und Petersiliengarnitur.

Besser als jeder Krimi und, was keiner erwartet, auch wirklich witzig.

Ich hab sie gerade zum dritten Mal in 30 Jahren gelesen und kann seit Wochen nachts nicht mehr schlafen.

 3 years ago 

Es hat noch niemand geschafft, mich auf Doste so neugierig zu machen, wie du. Kommt auf die nächste Lesestoffbestellliste... :-)

 3 years ago 

Du wirst es nicht bereuen. Achte bitte darauf, dass Du Übersetzungen von Swetlana Geier bekommst, oder, falls viel günstiger, von Herrmann Röhl. Im Antiquariat bekommt man die teilweise schon für 1-2 Euro, oder man aktiviert die gute, alte Bibliothek. Im Moment lassen sie einen ja rein.

 3 years ago 

So bleibt einem die Möglichkeit, schwärmerische Verehrung beizubehalten.

Einen derart unwürdigen Zustand konnte ich noch nie erreichen. Deswegen dachte ich auch schon mal, dass mit mir was nicht stimmt. Aber es liegt sicher daran, dass meine direkten Vorfahren genau aus so einem irren Zustand heraus zwischen Trümmer fielen und sich verdutzt die Augen rieben, als sie sich an einer völlig neuen, gegenläufigen Realität orientieren mussten. Wobei sie natürlich schon wieder ziemlich blöd aus der Wäsche geguckt haben und kaum zum Vorbild taugten.

Beatles, Stones, Dylan, Doors, Joni Mitchell, Hendrix, Led Zeppelin, all das verblüffend Neue war saugut. Doch Schwärmerei oder gar Verehrung konnte ich mir noch nie für irgendwas oder -wen abringen. Dazu hat mich die Realität immer viel zu blöde angeglotzt.

 3 years ago 

Moinsen!
Du schriebst unter anderem und lesenswertem:
"Kognitive Dissonanzen sind gerade bei denkenden und suchenden Zeitgenossen leider noch viel häufiger zu finden als bei tumben Proleten."
Kann ich das etwas genauer haben?
Gibt es dazu Quellen und empirische Studien?
Ich kenne nur den guten alten Festinger (1978), der hat meiner Erinnerung nach mit Studenten experimentiert, und ich kann mir im Augenblick noch nicht denken, dass es (als psychologisches Faktum) mit Bildung oder IQ zusammen hängen sollte.
Es grüßt temporär aus der Eifel
meinereiner

 3 years ago 

Moin. Da der Spruch original von mir ist, wirst Du den sonst vermutlich nirgendwo finden. Basiert lediglich auf dem Verständnis von kognitiven Dissonanzen und meiner Beobachtung des intellektuellen Milieus.

 3 years ago 

Ich meinte nicht den Spruch, sondern den darin behaupteten Zusammenhang, der zu ungunsten der "denkenden und suchenden Zeitgenossen" ausfällt, oder anders gesagt unterstellt, dass "Tumbheit" gegen kognitive Dissonanz ein Stück weit immunisiere.
Das fände ich interessant, wenn dem so wäre.

 3 years ago 

Nimm es als evidenzbasierte Arbeitshypothese durch Herrn Linientreu, der diese während seiner akademischen Laufbahn und danach selbst und staunend und zögernd herausgearbeitet hat.

Und sieh Dir die Heerscharen der Gläubigen jetzt an. Die einzigen, die resistent gegen neoreligiöse Heiligenverehrung und medial verbreitete Kulte sind, sind Handwerker und Hausfrauen.

 3 years ago 

Hm.
Darf ich noch nen Moment dran bleiben?

Bei Wikipedia habe ich im einschlägigen Artikel (https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz) dies gefunden:
"Diejenigen Kinder, denen nur eine milde Strafe angedroht worden war, erlebten kognitive Dissonanz und änderten zu ihrer Reduktion ihre Überzeugung: bei der zweiten Befragung stuften sie das verbotene Spielzeug als weniger begehrenswert ein (Aronson und Carlsmith, 1963). Auch mehrere Wochen nach diesem Experiment hielt die Wirkung der milden Strafandrohung an: Diese Kinder spielten nach wie vor viel weniger mit dem einst so begehrten Spielzeug (Freedman, 1965)."

Das sieht für mich so aus, als seien schon Kinder keineswegs immun gegen kognitive Dissonanzen. Woraus ich abzuleiten wage, dass auch spätere Bildung dagegen weder schützt noch dafür sensibilisiert.


Was ich mir ansehen soll ("Heerscharen der Gläubigen"), habe ich nicht verstanden. Um der riesigen kognitiven Dissonanz auszuweichen, dass ich in einer Scheißwelt lebe, obwohl ich meine Umgebung okay finde, vermeide ich seit langem das regelmäßige Lesen von Tageszeitungen, politischen Magazinen etc. und auch das Anschauen von Nachrichtensendungen. Von daher habe ich jetzt keine Ahnung, wen du meinen könntest und von welcher neoreligiösen Heiligenverehrung du sprichst.

Ganz allgemein würde ich aber vermuten, dass jede Sub-Gruppe ihre Heiligen hat, sei es aus "Bild der Frau", der "Bunten" oder wo auch immer her - oder eben aus SitComs wie "Home Improvement (Tool Time)" (entschuldige die uralten Beispiele).

Akademisch habe ich mich übrigens auch ein bisschen mit Grundlagen der Sozialpsychologie beschäftigt (an einem Institut für Empirische Kommunikationsforschung), das war sehr spannend. Von daher habe ich auch behalten, dass eigene Statistiken (unsystematisch aus eigener Erfahrung) sehr unzuverlässig sind...

 3 years ago 

Bitte nicht übelnehmen, aber akademische Erörterungen liegen außerhalb meines Tätigkeitsbereichs.

 3 years ago 

...und außerhalb meines Geschäftsbereichs sowieso!
Ich versuchte lediglich, dir meine Zweifel zu begründen an der These, Kognitive Dissonanz sei quasi ein Intellektuellen-Problem.
Ich denke, es funktioniert eher wie das Über-Ich-Gekacke genannt Gewissen.
Das sollte als educated guess rüberkommen, weil ich nunmal beobachtet werde.

Hi, mir hat Dein Text gut gefallen. Er ist sehr direkt geschrieben, weshalb ich innerlich ständig versucht habe, Dir zu widersprechen. Ich habe aber festgestellt und gebe zu, dass ich keine Ansatzpunkte zur Widerrede gefunden habe:-)

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